EKD-Vorsitzende Kurschus : Was liegt jenseits von Eden?
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Sie beschreiben die Spannung, die aktuell viele Menschen in unserem Land und in unserer Kirche bedrückt. Auch in mir ist diese Zerrissenheit. Ich kann einen Krieg grundsätzlich nicht gutheißen, auch keinen Verteidigungskrieg, auch keine Waffenlieferungen. Ich kann sie allenfalls als unvermeidlich anerkennen, als geringeres Übel für vertretbar halten. Es ist geboten, der Sünde in Form von brutaler Gewalt und verbrecherischem Unrecht entgegenzutreten. Die Hilfe für Menschen in höchster Not, gerade auch für die Schwachen, fordert, Angriffe auf ihr Leben, ihre Würde und ihre Freiheit nicht tatenlos hinzunehmen.
Androhung und Ausübung von Gewalt sind kein Selbstzweck
Unmissverständlich hält deshalb die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das prominenteste Dokument des protestantischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und einer Neuorientierung evangelischer Ethik im 20. Jahrhundert, fest: Der Staat hat nach Gottes Anordnung die Aufgabe, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“
Androhung und Ausübung von Gewalt sind demnach kein Selbstzweck. Sie unterliegen klaren Kriterien, und sie haben klare Grenzen. Staatliches Handeln ist gleichermaßen ermächtigt und begrenzt dadurch, dass Menschen den Erfolg ihrer Kalküle und Handlungen nicht per se garantieren können und dass menschliches Wissen und Erkennen per se endlich sind. Wir müssen handeln – und wissen zugleich, dass wir vieles nicht bis ins Letzte einschätzen können und manches erst hinterher wissen werden.
Zu Beginn des Krieges in der Ukraine war dieser Umstand mit Händen zu greifen. Als der Autokrat im Kreml sämtliche Grundfesten internationaler Politik und Zusammenarbeit skrupellos eingerissen hatte, gaben Politikerinnen und Politiker ihre Betroffenheit und Ratlosigkeit darüber offen zu. Derzeit dagegen dominieren im Brustton der Überzeugung vorgetragene moralische und politische Gewissheiten über das, was zu tun und zu lassen sei. Dabei sind Nichtwissen und Kontingenz gerade in Kriegszeiten stetige Begleiter politischen Handelns. Dies eingestehen zu dürfen unterscheidet demokratisch legitimierte Politik von autokratischer Kraftmeierei.
Androhung und Ausübung von Gewalt sind aus Sicht des christlichen Glaubens strikt an die Aufgabe gebunden, für Recht und Frieden zu sorgen. Dabei muss sich christlich gegründetes Handeln an Jesu Rede vom Reich Gottes und seiner Vision einer besseren Gerechtigkeit messen lassen. Dieser doppelte Maßstab ist der Kompass, mit dem Christinnen und Christen Politik gestalten. Sie verfügen keineswegs über ein Wissen, das es ihnen erlauben würde, einzelne politische Optionen direkt aus der Bibel abzuleiten oder gar zum Willen Gottes zu erklären. Jedoch gibt der Kompass Orientierung und weist den Weg, indem er uns zumutet, stets aufs Neue abzuwägen. Er verlangt, immer neu auszuloten, wie tatkräftiges Eintreten für das Recht und die Würde von Menschen in Not balanciert werden kann mit dem nachhaltigen Einsatz für Frieden. Das ist mühsam! Denn in dieser unauflösbaren Spannung gibt es oft kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“. Dies zu erkennen und auszuhalten ist eine schmerzliche Lektion, die auch ich persönlich in diesen Wochen täglich zu buchstabieren habe.