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Deutschland : Wer herrscht über das Grundgesetz?

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Bild: dpa

Deutschland wandelt sich von einem Gesetzesstaat zu einem Richterstaat, weil das Verfassungsgericht seine Kompetenzen überschreitet: Statt das Grundgesetz zu wahren, verändern die Richter es eigenmächtig. Aber das steht nur dem Gesetzgeber zu. Polemik gegen eine Anmaßung.

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          Das Bundesverfassungsgericht entscheidet streitige Verfassungsfragen der Bundesrepublik als die „letzte Instanz“. Es legt mit seiner Rechtsprechung den Inhalt des Grundgesetzes für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden verbindlich fest (Artikel 93 Grundgesetz, Paragraph 31, Absatz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Verfassungsrecht besteht also in Deutschland nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern in wesentlichen Teilen aus dem „Richterrecht“ des Bundesverfassungsgerichts.

          Gibt es rechtliche Grenzen für dieses Verfassungsrichterrecht - und wo sind sie? Verfassungen werden von ihren Müttern und Vätern in der Absicht geschaffen, einen verlässlichen Rechtsrahmen für lange Epochen zu gewährleisten. Das Grundgesetz enthält in Artikel 79 für bestimmte Kernbereiche (Grundsätze der Artikel 1 und 20) sogar eine sogenannte Ewigkeitsklausel, die Änderungen ausschließt. Zulässige Änderungen der Verfassung sind durch zwingend notwendige Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erschwert.

          Andererseits verändern sich moderne Gesellschaften auf allen Lebensgebieten mit großer Geschwindigkeit. Das gilt sowohl für Lebensumstände (Technologien, ökonomische und gesellschaftliche Strukturen) als auch für Wertvorstellungen. Das hat dazu geführt, dass das Grundgesetz schon bis 2009 insgesamt 57 Mal formell geändert oder ergänzt worden ist. Die Zahl der tatsächlichen Verfassungsänderungen ist damit nicht erfasst. Viele große und kleine Umwälzungen werden von den zuständigen Staatsorganen zunächst nicht als solche erkannt oder sollen auch nicht ins öffentliche Bewusstsein treten. So etwa die zunehmenden Normsetzungen der obersten Bundesgerichte und der damit verbundene schleichende, aber unbestreitbare Wandel der Bundesrepublik von einem Gesetzesstaat in einen Richterstaat. Das Bundesverfassungsgericht wird schon bei der Wahrnehmung seiner legalen Kompetenzen zutreffend als ein ständiger Ausschuss zur Fortbildung und Ergänzung des Grundgesetzes verstanden.

          Die unvermeidbare Fortbildung des Rechts durch die Richter ist eine legitime Daueraufgabe der Justiz. Es besteht im Hinblick auf den knappen Text des Grundgesetzes kein Zweifel, dass auch im Verfassungsrecht die Feststellung zutrifft: Das Richterrecht ist und bleibt unser Schicksal. Wegen der herausragenden Folgen für die Machtstrukturen in der verfassungsmäßigen Ordnung verdient das erhöhte Aufmerksamkeit.

          Dabei sind die Grenzen zwischen richterlichen Fortbildungen und Änderungen der Verfassung unscharf. Bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist zu unterscheiden zwischen Entscheidungen zur (notwendigen) Fortbildung des Grundgesetzes in Fragen, die vom Verfassunggeber nicht geregelt wurden oder werden konnten, und solchen, in denen das Bundesverfassungsgericht von den im Grundgesetz festgelegten Wertmaßstäben abweicht oder diese durch andere ersetzt, also die Verfassung ändert. Diese Unterscheidung ist für die Herrschaft über den Inhalt des Grundgesetzes von grundlegender Bedeutung.

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