Der Erste Weltkrieg : Der fremde Krieg
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In der 1914 zerstörten Stadt Hohenstein Bild: picture alliance / ZB
Im Gedenken an den Ersten Weltkrieg kommt Osteuropa kaum vor, dabei waren seine Folgen dort einschneidender als im Westen: Er verwüstete riesige Gebiete und veränderte die politische Landkarte von Grund auf. Doch selbst in der Erinnerung der Völker, auf deren Gebiet diese Schlachten ausgetragen wurden, kommen sie nicht vor.
Der Erste Weltkrieg in Ostmitteleuropa ist ein vergessener Krieg. Der Westen Europas erinnerte sich nicht daran - er gedenkt seiner eigenen Schlachten; aber auch im Gedächtnis der Völker, auf deren Gebiet er ausgetragen wurde, kommt er kaum vor. Dabei war Ostmitteleuropa kein unbedeutender Kriegsschauplatz. Deutsche wie Russen hofften, dort die Entscheidung über den Ausgang des Kriegs herbeiführen zu können. Im Sommer und Herbst 1914 glaubte die zaristische Armeeführung, Berlin sei in der Reichweite ihrer Kanonen; und die Oberste Heeresleitung des deutschen Kaiserreichs meinte 1915 wie 1918, der Vormarsch ihrer Truppen im Osten ändere den Verlauf des ganzen Krieges.
Im Osten Europas wurde der Krieg mit modernsten Mitteln geführt, in ihm wurden die feindlichen Kräfte auf eine Weise vernichtet und die Zivilbevölkerung in einem Maße in Mitleidenschaft gezogen, das sogar diese Region, die seit Jahrhunderten Durchmarschgebiet verschiedener Armeen war, noch nicht gesehen hatte. „Wer hat je von Przasnysz gehört?“, fragen rhetorisch die Historiker Wlodzimierz Borodziej und Maciej Gorny, die Verfasser eines soeben in Polen erschienenen Buches über den Ersten Weltkrieg: „Wahrscheinlich nicht viele. Gerade dort nahmen an drei großen Schlachten insgesamt Hunderttausende Russen und Deutsche teil (...). Die Gesamtzahl der Toten, Verwundeten und Vermissten (...) hat sicherlich die 100 000 überschritten. Warum kennen so wenige Przasnysz?“ Es gibt viele solcher Ortschaften, und fast alle sind in Vergessenheit geraten.
An der Ostfront wurde kein Stellungskrieg geführt, obschon auch hier Befestigungsanlagen gebaut wurden und viele Schlachten um Festungen wie Przemysl oder Modlin geschlagen wurden. Aber im Vergleich zu der verhältnismäßig stabilen Frontlinie im Westen haben wir es im Osten mit militärischen Operationen zu tun, die ein riesiges Territorium umfassten. Die Länge der Ostfront überstieg die der Westfront um ein Mehrfaches. 1917 erstreckte sie sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, sie verlief durch Territorien, die ethnisch, religiös und zivilisatorisch unterschiedlich waren.
Das erste, eher zufällige Opfer des Kriegs in Ostmitteleuropa war die militärisch unbedeutende Grenzstadt Kalisz. Die damals etwa 70 000 Einwohner zählende Stadt wurde schon am 2. August 1914 von den Deutschen kampflos besetzt. In den nächsten drei Wochen wurde sie systematisch zerstört, ihre Bevölkerung teilweise verhaftet und getötet, ein Großteil wurde vertrieben oder flüchtete selbst. Begründet wurde diese Härte von der deutschen Armee damit, dass die Soldaten angeblich aus der Stadtbevölkerung heraus beschossen wurden. Der tatsächliche Anlass war vermutlich eine Schießerei zwischen deutschen Patrouillen, die sich in der Dunkelheit nicht rechtzeitig erkannt hatten. Das Schicksal von Kalisz wurde damals schnell bekannt als Beispiel für preußische Greuel an der Zivilbevölkerung. Die russische Führung nutzte es propagandistisch aus - so wie in den Wochen darauf die deutsche Politik während des russischen Angriffs auf Ostpreußen Informationen über ein wildes und barbarisches Vorgehen der Russen verbreiten ließ.