Das Ding mit dem Osten
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Am Gedenktag des Mauerbaus im Jahr 2019 gehen Menschen an einer Seite des längsten, noch erhaltenen Teilstücks der Berliner Mauer, der East Side Gallery, entlang. Bild: dpa
1989 – in das Trauma der Doppeldiktatur krachte das Trauma der Verunsicherung. Verstörung, Abwehr, Gefühlsmüdigkeit, Desillusion machten sich breit. Nach vorn hin wurde saniert und saniert, inwendig blieb das Ganze ohne Boden.
Sich noch einmal auf diese sehr deutsche Wand zubewegen mit dem Risiko, dass kein Durchkommen ist. Noch einmal fragen, was los ist im Osten. Was machen die da? Warum sind die Kriegsenkel heute dort die Kernwähler der AfD? „Werde Bürgerrechtler!“, „Hol dir dein Land zurück!“, „Vollende die Wende!“ steht auf den Wahlplakaten der AfD, wenn man in diesen Tagen durch Brandenburg fährt. Die Bilder werden immer schiefer. Doch je schiefer, peinlicher, blöder, umso rasanter klettern die Umfragewerte der Rechten. Der Daueralarm verfängt und hinterlässt spürbar Panik im politischen Raum.
Wo sind wir? Was verrutscht da, was entzündet sich und warum? Wieso ich ausgerechnet jetzt an Hartmut Radebold denken muss, an diesen leisen, genauen Mann, Jahrgang 1935, in seinem azurblauen Mohairpulli. Radebold, der Nestor der Kriegskinderforschung und damit Spezialist für vaterlose Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Als ich ihn das letzte Mal sah, saß er auf einem Podium und sprach kaum hörbar, aber vor sehr vollem Saal von seinem „Kummer“. Radebold ist Psychiater und Psychoanalytiker. Es ist davon auszugehen, dass sein öffentlicher Schmerz mehr sein wollte als etwas Persönliches. Als hätte er seinen Zuhörern noch einmal Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“ auf die Knie gelegt. Trauern als gesellschaftliches Bewältigungsmodell.
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