Bildung : Zwist am Abgrund
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Bei der Reflexion geht es um eine Kompetenz, die zur methodischen Beherrschung, kritischen Prüfung und kreativen Entwicklung von Theorien befähigt. Darüber hinaus verbindet man mit Bildung so etwas wie Charakterbildung, moralische Integrität und auch soziale Kompetenzen - also, allgemein gesagt, Orientierung. Eine Universität, die über die Fachausbildung hinausgeht, darf sich nicht davor scheuen, diese höheren, in sich vielfältigen Ansprüche an sich selbst zu richten.
- Seien wir ehrlich: das ganze Elend kommt daher, dass wir den Elitegedanken verleugnet haben.
Eduard Spranger
Reflexion setzt dort ein, wo man über die Grundlagen einer Disziplin Rechenschaft ablegt und Einsicht in das Fragmentarische des Spezialwissens erlangt. Gefragt ist - wie Tillich sagte - das „Bewusstsein um die Ganzheit unserer Situation, in der alle Elemente unserer Kultur miteinbegriffen sind“. Diese Reflexion kann man freilich nicht in abstrakter Weise leisten, sondern nur im Austausch mit anderen Disziplinen. Zugegeben: Mit der ebenso oft gepredigten wie geschmähten Interdisziplinarität tut man sich heute schwer. In jedem Großforschungsantrag wird sie an vorderer Stelle bemüht, aber insgeheim würden wohl Scharen von Forschern am liebsten Reißaus nehmen, wenn von Ferne der Ruf nach Interdisziplinarität ertönt. Verschiedene Verbundprojekte, die mit großem Tamtam angestoßen wurden, sind inzwischen gescheitert oder tun sich enorm schwer. Doch so steinig der Weg der Interdisziplinarität auch sein mag - wenn man ihn nicht beschreitet, bleibt Bildung als Reflexion hohl. Der preußische Hochschulpolitiker Carl Heinrich Becker wetterte schon um das Jahr 1920 gegen den „Konservatismus“ reiner „Fachschulung“ und plädierte für den „Mut zum Dilettantismus“, mit welchem erst wissenschaftliches Neuland erschlossen werden könne: „Ein Volk ist senil, das sich vor solchem Dilettantismus fürchtet.“ Sollten wir etwa senil geworden sein?
Mit der Bildung als Orientierung tut man sich heute ebenso schwer wie mit der Reflexion. Wenn die Universitäten den Ruf nach Orientierung hören, dann neigen sie dazu, sich für unzuständig zu erklären und diese Forderung an die Elternhäuser der Studenten zurückzuverweisen. Wenn es auch zutrifft, dass die Moralerziehung zuallererst eine Sache der Familie ist, dann gilt doch, dass die von der Universität forcierte Wissensgesellschaft mit wachsenden ethischen Herausforderungen einhergeht. Man muss sich zurechtfinden in verschiedenen kulturellen Kontexten, man muss aber in der Lage sein, in Organisationen und Produktionsprozessen Verantwortung zu übernehmen. Vor der Vermittlung der Kompetenzen, die dafür erforderlich sind, dürfen sich die Universitäten nicht drücken.
- Ob der Staat eine Universität dulden kann, in der Wahrheit um der Wahrheit willen gelehrt werden soll, ist, da er die Lüge liebt, sehr fraglich.
Theodor Haecker
Die Universität ist ein Geduldsspiel, ein Balanceakt. Wenn sie nicht abstürzen will, muss sie in Bewegung bleiben. Sie ist - Reformmüdigkeit hin oder her - eine permanente Baustelle, kein Gebäude, das irgendwann zu Humboldts Zeiten fertiggestellt worden wäre und dem man sich nur denkmalpflegerisch nähern dürfte. Zu dieser Beweglichkeit der Universität gehört auch das Bewusstsein von den Drehungen und Wendungen ihrer Geschichte. Es lohnt sich, die Bausteine, die in der Debatte über den Umbau der Universität vor 1933 gesichtet und behauen worden sind, heute auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Der damalige Kurator der Frankfurter Universität, Kurt Riezler, schrieb 1929: „Der Boden schwankt und eine neue Welt scheint zu entstehen bemüht.“ Die Bemühung damals führte ins Nichts, sein Satz hat nichts von seiner Gültigkeit verloren.