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Die EU und das Schweizer Referendum : Gespräche ohne Schaum vor dem Mund

Täglich pendeln 230.000 Grenzgänger in die Schweiz. Bild: picture alliance / dpa

Nach dem Referendum muss die Schweiz mit der EU neu verhandeln. Dabei kann Bern nicht mit allzu viel Entgegenkommen rechnen. In Brüssel sieht mancher sogar eine willkommene Chance, um bei alten Streitthemen endlich EU-Interessen durchzusetzen.

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          Die Mühlen der EU mahlen langsam, deshalb wollte und konnte am Montag in Brüssel niemand sagen, was die Schweizer Volksabstimmung nun im Einzelnen für die Zukunft der Beziehungen zwischen dem kleinen Land und der großen Union bedeutet, die sie auf allen Seiten umgibt. Die Sprecherin der EU-Kommission fasste den Stand der Dinge mit der bekannten Fußballformel zusammen, der Ball liege nun im Schweizer Feld.

          Nikolas Busse
          Verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik.

          Denn erst wenn klar ist, was die dortige Regierung aus dem Votum ihres Volkes machen wird, können überhaupt Gespräche zwischen beiden Seiten stattfinden. Dass der Schweizer Bundesrat dafür drei Jahre Zeit hat, wurde in Brüssel auffällig oft erwähnt. Vermutlich hofft doch mancher darauf, dass auch in diesem Fall nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht ist.

          Es entstand allerdings nicht der Eindruck, dass die Schweiz in den anstehenden Verhandlungen mit allzu viel Entgegenkommen oder Nachsicht rechnen kann. Am Montag fand zufällig ein Treffen der EU-Außenminister in Brüssel statt, und das nutzten etliche nationale Regierungen zu einer Stellungnahme. Von Luxemburg bis Deutschland war durchgehend zu hören, dass man den Willen des Schweizer Volkes natürlich respektiere, die Freizügigkeit aber nicht angetastet werden dürfe. „Zu einer fairen Kooperation gehört die Achtung zentraler Grundentscheidungen“, formulierte das der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Selbst dem Briten William Hague, dessen Regierung ebenfalls mit einer Beschränkung der europäischen Freizügigkeit liebäugelt, schien zumindest in einer Hinsicht das Hemd näher als die Hose. Seine Regierung werde genau darauf achten, was die Schweizer Entwicklung für die 40.000 Briten bedeute, die in dem Land lebten.

          Eine jahrelange Prozedur

          Aus Kommission und Parlament, den beiden anderen EU-Institutionen, waren ebenfalls Bekenntnisse zum „heiligen Grundsatz der Freizügigkeit“ (so die Kommissionssprecherin) zu hören. Angesichts dieses Meinungsbilds vermochte sich keiner in Brüssel vorzustellen, dass sich die EU gegenüber der Schweiz zur Einführung von Quoten irgendwelcher Art bereit erklären könnte. Neue Verträge gäbe es sowieso erst nach einer (jahre)langen Prozedur: Die Kommission verhandelt mit Bern, die Mitgliedstaaten und das Parlament müssen dem Ergebnis am Ende zustimmen.

          Wie es weitergeht, darüber sollen nun möglichst rasch Gespräche geführt werden. Eines ist, ebenfalls unbeabsichtigt, schon für diese Woche geplant. Die EU wollte da eigentlich über ein neues Rahmenabkommen mit der Schweiz verhandeln, muss sich nun aber erst einmal mit dem Schicksal bestehender Verträge befassen. Steinmeier kündigte an, er werde mit dem Schweizer Außenminister in den nächsten Tagen reden. Wie so viele machte er deutlich, dass solche Gespräche „ohne Schaum vor dem Mund“ geführt werden sollten.

          Brüssel am Tag danach: Asselborn (links) mit Steinmeier
          Brüssel am Tag danach: Asselborn (links) mit Steinmeier : Bild: dpa

          Was auf dem Spiel steht, war beiden Seiten schon vor der Abstimmung bekannt, allerdings lautet die europäische Lesart, dass der Einsatz für die Schweizer höher ist als für die EU. Die inzwischen zu Berühmtheit gelangte „Guillotineklausel“ in Artikel 25 des Freizügigkeitsabkommens würde bei dessen Kündigung automatisch sechs weiteren Verträgen zwischen der Schweiz und der EU den Garaus machen, die vor allem den Handel betreffen: Dazu gehören Abkommen über den Luftverkehr, den Güterverkehr auf Straße und Schiene sowie den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten.

          Von der Freizügigkeit profitieren vor allem: Schweizer

          Dass ein älteres Freihandelsabkommen aus dem Jahr 1972 in Kraft bliebe, hinderte einige EU-Minister nicht daran, den Schweizern vorzurechnen, dass sie sich ins eigene Fleisch schnitten. Steinmeier etwa wies darauf hin, dass die Schweiz mehr Handel mit Baden-Württemberg als mit den Vereinigten Staaten treibe. Und das Land sei doch für seinen wirtschaftlichen Erfolg von „qualifizierter Zuwanderung“ abhängig. In der Kommission waren da manche allerdings vorsichtiger. Man könne nicht beziffern, welche Kosten entstünden, wenn die sieben Abkommen wegfallen würden.

          Andere Verträge, unter anderem der über die Schengen-Mitgliedschaft, wären vom Fallbeilartikel allerdings nicht betroffen. Insgesamt haben die Schweiz und die EU mehr als 100 bilaterale Abkommen geschlossen. Dass die Schweiz nun in Neuverhandlungen über die wichtigsten Dokumente eintreten muss, sah in Brüssel mancher sogar als willkommenen Chance, um bei alten Streitthemen wie der Zinsbesteuerung endlich die Interessen der EU durchzusetzen.

          Bild: F.A.Z.

          Selbst bei der Freizügigkeit sieht die Bilanz nur oberflächlich wie ein Nachteil der Schweiz aus. Eine Millionen EU-Bürger leben in der Schweiz, 230.000 pendeln täglich als Grenzgänger in das Land. Dem stehen 430.000 Schweizer gegenüber, die in der EU leben. Setzt man das ins Verhältnis zu den jeweiligen Bevölkerungszahlen, dann profitieren prozentual weitaus mehr Schweizer von der Freizügigkeit als EU-Bürger.

          Zu den europäischen Reaktionen am Montag gehörte auch die Sorge, dass der Erfolg der Schweizer Initiative Wasser auf die Mühlen der eigenen Euroskeptiker lenken könnte. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sagte, dass hier ein Beispiel für manche Leute in der EU gesetzt werde, die den gleichen Weg gehen wollten. Und der französische Europaminister Thierry Repentin sprach unverblümt von einer schlechten Nachricht vor den anstehenden Europawahlen im Mai. Man dürfte aber keine Rückschlüsse darauf ziehen, was die Bevölkerungen in der EU über die Freizügigkeit dächten.

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