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Deutsche Nahost-Politik : Fluch der Geschichte

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Die deutsche Nahost-Politik muss begründet werden. Sonst entsteht Raum für Populisten und Antisemiten. Wie im Falle des Gedichts von Günter Grass reicht es nicht, wenn sich die Politik als Gralshüterin der Staatsmoral geriert.

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          Vor fast zehn Jahren gab die EU-Kommission eine Umfrage in Auftrag. Sie wollte wissen, was die Europäer über die internationale Politik denken. „Welches Land halten Sie für eine Bedrohung des Weltfriedens?“, lautete eine der Fragen. Mehr als die Hälfte der Befragten machten ein Kreuz bei den Vereinigten Staaten, bei Nordkorea und bei Iran.

          Das überraschte nicht. Was die Auftraggeber der Studie schockierte: Noch mehr, nämlich fast 60 Prozent der europaweit Befragten, hielten Israel für eine Bedrohung des Weltfriedens. Ein höchst unwillkommenes, ja beschämendes Ergebnis. Der damalige Ratspräsident Silvio Berlusconi sah sich genötigt, beim israelischen Ministerpräsidenten anzurufen und sich für die Ansichten der Europäer zu entschuldigen. Vermutlich seien, so Berlusconi zu Scharon, die Fragen falsch gestellt worden.

          Sympathie für Günter Grass überrascht nicht

          Das ist unwahrscheinlich. Denn immer wieder haben Umfragen in Deutschland oder anderswo in Europa ergeben, dass mehr als die Hälfte der Menschen die israelische Politik kritisch beurteilen. Sogar Formulierungen wie „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ erlangen Zustimmungsraten von fast 60 Prozent.

          Deshalb verwundert es nicht, dass auch die Zeilen von Günter Grass auf breite Sympathie stoßen. Vier von fünf Befragten halten seine Ansichten für richtig oder zumindest diskutabel. In Internetforen oder bei Befragungen auf Marktplätzen - überall findet er Unterstützung. Die Leserbriefe, die unsere Redaktion zum Interview mit Marcel Reich-Ranicki vom vergangenen Sonntag erhielt, nahmen in der Mehrzahl Grass gegen seinen Kritiker in Schutz.

          Dem steht die einhellige, teils scharfe Verurteilung von Grass durch deutsche Politiker gegenüber. In der politischen Klasse fand sich niemand, der ihm beispringen wollte. Nicht einmal von der Linkspartei erhielt er nennenswerte Zustimmung, zu schweigen von der SPD. Mit Übertreibungen und der unsinnigen Behauptung vom geplanten Erstschlag Israels - als sei ein atomarer Angriff beabsichtigt - hatte Grass eine solche Reaktion provoziert.

          Trotzdem bezog kein Politiker den Standpunkt, dass die Grassschen Verse zwar im Ton unangemessen, seine Aussagen nicht annehmbar sind, dass dahinter aber eine durchaus bedenkenswerte Frage steht: Wie wird sich Deutschland im Falle eines israelischen Angriffs auf die iranischen Atomanlagen verhalten? Und was bedeutet dann das denkwürdige Diktum der Kanzlerin, die Verantwortung für die Sicherheit Israels sei Teil unserer Staatsräson geworden?

          Ein Defizit an Demokratie

          „Wir wollen diese Diskussion jetzt nicht“ - diese Antwort erhält man von offiziellen Stellen in Berlin, wenn man nach Israel, Iran und der deutschen Staatsräson fragt. Die Kanzlerin hielt es nie für nötig, ihr Versprechen, das sie 2008 im fernen Jerusalem vor der Knesset gab, den Menschen zu Hause zu erläutern. Sie warb nicht um Verständnis und Unterstützung.

          Wenn Ansichten, Sorgen und Ängste der Mehrheit von der Politik nicht aufgenommen werden, haben wir ein Defizit an Demokratie. Hier wirkt der Fluch der deutschen Geschichte: im Misstrauen gegen das eigene Volk. Die Politik fürchtet das Volk, sie hat Angst vor einer Diskussion, in der unliebsame Positionen breitere Unterstützung finden könnten. Das betrifft nicht nur Israel, sondern auch die europäische Einigung, den Afghanistan-Krieg und die Euro-Rettung. Die Politik traut dem Volk nicht über den Weg, denn es könnte ja Ansichten vertreten, die ihr als falsch, dumm, unmoralisch und peinlich gelten.

          Ein Dilemma

          Dem Volk gegenüber versteht sich die Politik als moralische Elite. Sie gebärdet sich als Gralshüterin der Staatsmoral. Und Staatsmoral ist die historische Verantwortung. Sie gilt absolut und unterliegt nicht demokratischen Entscheidungen. Das führt in ein Dilemma, weil Deutschland eigentlich ja beides sein will: Musterschüler der Vergangenheitsbewältigung und Musterschüler der Demokratie.

          Die Bürger, die sich entmündigt fühlen, reagieren mit Trotz. Manche wählen Parteien ohne Programme, andere wählen gar nicht. Sie geben im Schutz der Anonymität, in Umfragen und im Internet, Ansichten von sich, die sie, fühlten sie sich verantwortlich, vielleicht noch einmal überdenken würden. An die Stelle sachlicher Wortmeldungen treten verunglückte Gedichte, die zuspitzen, wo Behutsamkeit geboten wäre. Gleichzeitig wächst die Angst, dass einer kommen könnte, der die Menschen abholt, wo sie stehen: die Furcht, dass Thilo Sarrazin eine Partei gründet.

          Die deutsche Nahost-Politik braucht eine fundierte demokratische Absicherung. Das bedeutet keine dramatische Richtungsänderung, sondern nur eine offene politische Diskussion. Sie muss sich der Frage stellen, ob unsere Solidarität mit Israel Grenzen haben kann. Und sie darf die Grenze zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik nicht verwischen. Sie muss diese Grenze sogar ziehen. Denn erst dann wird eine ehrliche und konstruktive Auseinandersetzung mit Israel und seiner Politik möglich.

          Die deutsche Nahost-Politik muss begründet werden. Sonst entsteht Raum für Populisten und Antisemiten.

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