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Musikalische Freundschaft Begegnung – Rencontre

Reinhard Mey wird heute 75. Auch Hannes Wader feierte dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Beide waren gerade auf Tour. Wer hätte das vor fünfzig Jahren gedacht? Die beiden haben eine wundersam verflochtene Geschichte und ein gemeinsames Idol: den Chansonier Georges Brassens.

Von Volker Zastrow

Reinhard Mey bei seiner Herbsttournee: Am 21. Dezember dieses Jahres wird er 75 Jahre alt.
© Hella Mey
Reinhard Mey bei seiner Herbsttournee: Am 21. Dezember dieses Jahres wird er 75 Jahre alt.

Mississippi

Vater schloss die Tür zu meinem Zimmer von innen. Das machte er nur, wenn es ernst wurde. Es sollte eine Frau vom Jugendamt kommen. Die wird auch mit dir sprechen, sagte Vater. Wenn sie dich fragt, warum du weggelaufen bist, dann musst du sagen: Aus Abenteuerlust. Du liest doch so gern Mark Twain. Erzähl ihr davon. – Ich nickte. – Sonst kann es sein, dass du ins Heim kommst, sagte Vater. Für Schwererziehbare.

Später kam die Frau vom Jugendamt. Man hörte die Stimmen durch die Stubentür. Danach ging die Frau zu mir. Sie trug einen Dutt. Sie sah mich mit kalten Augen an. Sie fragte, warum ich fortgelaufen sei. Es war schon Monate her. Ich sagte: Aus Abenteuerlust. Sie sagte: Ja. Was wolltest du denn erleben? Ich erzählte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Offenbar kannte sie das Buch nicht.

Beim ersten Mal war ich zehn gewesen, auch im Winter. Jetzt zwölf. Am Straßenrand lag grauer Schnee. Ich schaffte, per Bahn und per Anhalter, keine hundert Kilometer. Es wurde schon dunkel. Ein Autofahrer übergab mich der Polizei. Beim dritten Mal war ich fünfzehn, beim vierten Mal sechzehn. Dann war ich frei. Ich trampte viel. Am Straßenrand vertrieb ich mir das Warten mit Gedichten. Oder sang. Ich bin unterwegs nach Süden und will weiter bis ans Meer. Will mich auf heiße Kiesel legen, und dann brennt die Sonne mir die Narben aus dem Nacken, jeden Kratzer, jeden Fleck. Dass von den tausend Händen, die mich das ganze Jahr befingert und geschlagen haben, keine Spur mehr übrig bleibt. Ich bin aus jenem Holze geschnitzt, in das man ein Herz und zwei Namen ritzt.

Blumen des Armen

Zu der Zeit, als die Tante vom Jugendamt bei uns aufschlug, 1970, trällerte im Treppenhaus ein dickes Mädchen Tag für Tag mit heller Stimme: Ich weiß, so ein Mädchen ist eiheigehentlich viel zu schade für mich, viel zu schahade für mich. Es klang wie ein Kinderlied, eins von jeher. Aber es stammte aus dem Radio, von einer ziemlich neuen Platte. „Hannes Wader singt . . .“ Nur Gesang und Gitarre. Das Cover zeigte sein Bild: schwarzes Cape, schwarzer Schlapphut, wallendes Haar, Knebelbart und sardonisches Grinsen. So lief er auch herum in den sechziger Jahren. Nur das Grinsen fehlte.

In diesem Aufzug sprang er auf einen Zug, den er im letzten Augenblick erreicht hatte. Damals konnte man an den Waggons noch von außen die Tür aufreißen. Aber war es überhaupt das richtige Gleis gewesen? Wader fragte einen Herrn im Abteil. „Wohin fährt denn dieser Zug?“ Der Herr las die Frankfurter Allgemeine. Ein kluger Kopf. Gehobenes Herkunftsmilieu. Er musterte den Freak, schwarzes Cape, schwarzer Schlapphut und so weiter. Dann erwiderte er: „Das hier ist die erste Klasse.“

Fünfzig Jahre später lacht Wader darüber, aber eher gequält. Er kann kaum aufhören, und bald klingt es mehr wie Schreien. Sein Thema, schon immer. „Auch ich stamme aus einem alten Geschlecht – von Leibeigenen, noch mein Vater war Knecht.“

Allerdings war die ganze Familie musikalisch. Und sozialdemokratisch. Der Vater gehörte zu den Gründern der örtlichen Mandolinen-Combo. Wären sie Kommunisten gewesen, hätte Hans Schalmei gelernt. Die Kommunisten waren Revolutionäre, sie brauchten einen aggressiven Sound. Auch die Nazis, die sich viel von den Kommunisten abgeguckt hatten, bevorzugten durchdringende Klänge. Nicht umsonst gründete Horst Wessel in der SA schon früh eine Schalmeien-Kapelle. Und nach dem Untergang des „Dritten“ Reiches setzte die DDR die Schalmei-Tradition fort.

Aber das interessierte Hans Wader damals noch nicht. Man darf sich die Verhältnisse in seinem westfälischen Dorf, Hoberge-Uerentrup bei Bielefeld, arm genug vorstellen. Seelisch und materiell: der Vater im Krieg, die Mutter Putzfrau, zwei schon berufstätige Schwestern, der überforderte „Opa Hose“ und ein zwar hochmusikalischer, aber verbitterter und gewalttätiger Onkel. „Wenn er dann im eignen Blut / morgens vor der Haustür lag“, erzählt der fast vierzigjährige Wader in einem traurig schönen Lied, „hatte er noch Kraft genug, / dass er mit der blutbesudelten Trompete nach mir schlug.“ Schon als Kleinkind oft eingesperrt und allein, ständig hungrig, meist verlassen – in einer Umgebung, die Entsetzen in das kindliche Herz pflanzte, indem sie jederzeit grundlos in Feindschaft und Gewalttätigkeit umschlagen konnte. Ein kleiner Träumer, allen fremd. Und ihm alle. Volksschule, das Mandolinenorchester. Dann die Lehre als Schaufenstergestalter in einem Schuhgeschäft.

Das Mandolinenorchester hatte einen Bildungsauftrag, auch darin echt sozialdemokratisch. Gegeben wurden etwa Opern-Ouvertüren, Freischütz. Operetten waren verpönt. Hans’ Idole hießen da noch Peter Alexander, Conny Froboess und Vico Torriani. Was eben damals in Gaststätten so zu hören war. Denn zu Hause gab es weder Radio noch gar Plattenspieler, nie, auch nicht später. Aber Hans lernte nun auch Gitarre und brachte sich außerdem Klarinette bei. Seine Mittagspausen verbrachte er in der Rio-Milchbar in Bielefeld. Dort hingen die Gymnasiasten ab. Menschen, die lasen! In seinem Kirchspiel war Hans der Einzige, der so was machte, der Bücher las. Auf dem Land wurde ein derbes, dürftiges Platt gesnakt; Hans’ Wortschatz veränderte sich durch seine Lektüre. Bis heute. Wer nutzt noch so eigenwillige Worte wie „Kirchspiel“ oder „Hagestolz“?

Der deutsche Liedermacher Hannes Wader in den 1970er Jahren
© United Archives / Schweigmann /
Der deutsche Liedermacher Hannes Wader in den 1970er Jahren

Damals machte ihn das verdächtig. Es genügte ja eine winzige Veränderung, „um die Fresse poliert zu kriegen“. Musste kein Fremdwort sein, nur etwas ungewöhnlich. Oder ein nicht ganz so plump gesetzter Satz. Das war die Arbeiterklasse, sagt Wader: Leute, die ein sehr feines Gefühl dafür haben, wenn einer sich über sie stellt, denn anders können sie es nicht werten. „Es war für mich ein unglaublich sportlicher Aufwand, die Arbeiterklasse anzuerkennen als Subjekt und Objekt der revolutionären Veränderung in der Welt – Leute, von denen ich immer nur in den Arsch kriegte. Von morgens bis abends. Aber ich hab das geschafft, indem ich eben gesagt hab: Ja, das muss so sein. Können ja nicht anders. Aber da müssen sie raus.“

Kirchspiel, Fresse, Hagestolz, am Arsch geleckt und Gott befohlen. Das ist die Mischung.

Für die Gymnasiasten war einer, der las, nichts Besonderes. Sie lasen ja selbst. Durch sie kam Hans auf den Jazz. Und ging abends mit zu Konzerten im Bunker Ulmenwall, wo live gespielt wurde. Daher die Klarinette. Im Waldfrieden, dem Treffpunkt der Landjugend, brachte er den Wirt dazu, ihm Platten zu bestellen, auf denen es Klarinetten-Solos gab. Chris Barber, Monty Sunshine oder Sidney Bechet, der 1949 nach einem erfolgreichen Konzert einfach in Paris geblieben war. Petite Fleur. Hans warf zwei Groschen in die Musicbox, hockte sich davor, hörte zu. Er lernte. Die Erwachsenen im Waldfrieden fanden die Negermusik scheußlich. Sie hätten lieber mit Katharina Valente und ganz Paris von der Liebe geträumt.

Aber Hans hatte ja keinen Plattenspieler! Also prägte er sich die Melodien im Wirtshaus ein und übte sie später zu Hause auf seiner Klarinette. Er war schon ein Musiker, aber wusste es nicht. 15 Jahre alt. Damals starb sein Vater. Das Verhältnis zu ihm „wie ein Feuer ausgepisst, das dennoch ewig weiter raucht“. So heißt es in dem Lied „Erinnerung“, jenem traurig schönen aus dem Jahr 1980. Anderthalb Jahrzehnte später, Cape und Schlapphut hingen längst am Nagel, schrieb Wader wieder über Vater und Mutter. „Eltern“ heißt dieses Chanson, und es ist ebenfalls traurig schön. An einem leuchtenden Sommertag im Garten sang er es zur Gitarre. Jede Silbe genau geschnitten. Er hatte ewig an dem Lied gearbeitet. Es war noch verletzlich, aber bedeckte den Himmel und tränkte die Wälder mit langem, schwerem Regen.

Douce France

Dort in Nordfriesland, der Struckumer Mühle, die Wader gekauft hatte, kam auch Reinhard Mey gelegentlich vorbei, wenn er mit Frau und Kindern nach Sylt fuhr. Dann saßen alle in dem prächtigen Garten. Meys aufmüpfiger Sohn Max wurde im Licht der Sonnenblumen ganz zahm. Er sah in Wader einen Seelenverwandten, der auch wider den Stachel löckte. Einen, der sich Charlie nannte.

Mey und Wader hatten ihre Karriere zusammen begonnen. Sie waren Mitte der sechziger Jahre im VW Käfer auf Tour gegangen, weil sie jeder für sich noch nicht genügend Lieder für einen Abend beisammen hatten. Aber es wurden mehr. Auch Mey hat über seine Eltern geschrieben: Wie er mit zwölf ihre Unterschriften auf dem miserablen Schulzeugnis fälschte („schön bunt, sah nicht schlecht aus, ohne zu prahl’n“), aber die Eltern vor dem wutschäumenden Lehrer darauf beharrten, die krakeligen Signaturen seien ihre. Die Mutter war selbst Lehrerin. Oder „51er Kapitän“, über den Vater, einen begeisterten F.A.Z.-Leser. Ein Jurist, bis zum letzten Atemzug an Kultur interessiert.

Der Sänger und Liedermacher Reinhard Mey bekam mit 14 Jahren seine erste Gitarre.
© SZ Photo
Der Sänger und Liedermacher Reinhard Mey bekam mit 14 Jahren seine erste Gitarre.

Reinhard hatte seinen Eltern zunächst sehr übelgenommen, dass sie ihn in Berlin ins französische Gymnasium steckten. Aber bald war er ihnen dankbar, und das sein Leben lang. Schon vor seiner Geburt hatten die Eltern französische Freunde, mit denen sie gemeinsam verreisten, Ski-Urlaub machten – dann war der Krieg gekommen und hatte die Freunde getrennt. Aber sie hatten einander versprochen: Wenn der Wahnsinn vorüber ist, wollen wir uns wieder treffen. Und wenn wir Kinder haben, dann sollen die es ebenso machen. Dann sollen sie dafür sorgen, dass Deutschland und Frankreich einander Freund sind statt Feind. An diesen Plan hielten sie sich. Reinhard wurde in den Sommerferien in die Ardèche geschickt, zu der dort inzwischen siebenköpfigen Familie, wo er sich mit dem wenig jüngeren Étienne befreundete. Bald waren sie unzertrennlich. Das half natürlich sehr beim Französischlernen.

Außerdem übte Étiennes Vater, ein Deutschlehrer, mit den beiden Jungs Diktat. Jeden Morgen um zehn. „L’île au trésor“, die Schatzinsel. Für Reinhard der Höhepunkt des Tages, er kam nie auch nur eine Minute zu spät. Das Größte war, wenn er nicht mehr Fehler gemacht hatte als Étienne. Aber auch zu Hause übte er weiter Französisch – mit dem eigenen Vater. Den hielt es in Übung, und dem Sohn machte es Spaß. Wenn es in der Schule auch sonst nicht gut klappte, in Französisch war Reinhard richtig gut. Weil ihn die Eltern früh „hineingetunkt“ hatten, wurde es ihm zur zweiten Muttersprache. In den französischen Ferien, als Kind unter Kindern und Jugendlichen, konnte er sie aufsaugen.

In der Gruppe in der Ardèche hatte ein Junge namens André den Ton angegeben. Der besaß schon den Führerschein. Er fuhr und sang dabei, sang überhaupt bei allen Ausflügen. Lieder, die dem elf, zwölf Jahre alten Reinhard sehr imponierten. Überraschend, witzig und mit gewissen Ferkeleien. „Brave Margot“: Über ein Mädchen, das einem armen, halbverhungerten Kätzchen die Brust gibt. Bald kommen alle Männer aus dem Dorf, um das Kätzchen zu sehen. Danach die Frauen, die es umbringen. Oder „P . . . de toi“, wobei das P für „Putain“ steht. Sehr freundlich übersetzt heißt das Lied also „Du Schlampe“. Wieder kommt ein Kätzchen darin vor. Aber es ist ungewiss, ob das Kätzchen, das dem Sänger zugelaufen ist, wirklich eines ist. Denn wenig später springt es für ein Schnitzel ins Bett des Metzgers.

Wir schreiben das Jahr 1954. Prüde Zeiten. Wenn Étiennes liebenswürdige, aber gestrenge Eltern gewusst hätten, was ihr Feriengast da bei ihrer fröhlich mitsingenden Brut lernte, hätte es Stubenarrest gesetzt. Doch für einen Jungen am unteren Pubertätsrand waren solche Lieder die denkbar spannendste Art, Französisch zu lernen. Lieder von Georges Brassens. Die Kinder sangen ohne Gitarre. Manchmal nahmen sie zum Picknick ein Grammophon mit, eins zum Aufziehen, und auch eine Schallplatte von Brassens. „Les Sabots d’Hélène“ vielleicht, Helenes Holzschuhe.

Als Reinhard wieder in Berlin war, geriet Brassens aber allmählich in Vergessenheit. Wie auch nicht? In Deutschland war er nicht zu hören. Bis Reinhard ihn plötzlich zu sehen bekam, im Kino. Seine Eltern, immer bestrebt, ihn mit französischer Kultur zu befruchten, hatten ihn mit in „Die Mausefalle“ genommen. In diesem Film, Porte des lilas, spielt Brassens einen Kleinganoven, aber einen ehrenwerten. Und er singt zur Gitarre seine Lieder. Au bois de mon cœur, Le Vin. Reinhard fand den Mann mit der Pfeife wunderbar. Seine Lieder waren so ganz anders als die Schlager der Nachkriegszeit und der Rock’n’Roll.

Reinhard hatte zu dieser Zeit selbst schon mit der Gitarre begonnen. Die nächsten Sommerferien verbrachte er bei einer anderen Gastfamilie, nun in Paris. Er war inzwischen fünfzehn, und tagsüber durfte er tun, was er wollte. So klapperte er die Cafés auf dem Boulevard du Montparnasse ab, stets auf der Suche nach Liedern von Brassens. Es hatte ihn gepackt. Sein ganzes Taschengeld landete in den Jukeboxes. Er versuchte dann, die Chansons nachzuspielen. Aber die Harmonien sind komplexer, als es scheint. Man braucht schon mehr als nur drei Akkorde. Brassens selbst komponierte zunächst am Klavier und arrangierte erst hinterher für Gitarre.

Georges Brassens im November 1965 bei einem Konzert in Paris
© MAGNUM PHOTOS
Georges Brassens im November 1965 bei einem Konzert in Paris

Reinhard besorgte sich die Noten auf Papier – Melodie und Akkorde und nicht zu vergessen die Texte. Denn Brassens Sprache, so schlicht, klar und deutlich sie auch daherkommen mag, ist nicht gerade einfach zu verstehen. So viel Spiel ist darin, so viele Anspielungen, oft auch Neuerfindungen. Außerdem schöpft Brassens nicht nur aus Alltagssprache und Dichtung, sondern auch aus dem Argot, dem Jargon der Ausgestoßenen. Der steht nicht im Vokabelheft. Die Lieder, die Mey nun kennenlernte, lebten aber längst nicht mehr von jenen kleinen Anzüglichkeiten, bei denen ein Junge in der Pubertät die Ohren spitzt. Nein, nun ging es um Liebe und Menschlichkeit. Brassens sang über eine Welt, wie sie sich dieser idealistische Junge aus Berlin wünschte, Brassens sang über Freundschaft und Wärme, Offenheit und Verständnis.

Es war die „Chanson-Offenbarung“, schwärmt Mey noch Jahrzehnte später. „Das, womit ich den Begriff Chanson überhaupt verbinde. Es hat alles gestimmt: die Texte, die Melodien, die Gitarrenbegleitung – und der Eindruck, den ich von der Person Georges Brassens hatte.“ Er wollte auch so etwas tun. Und bei ihm daheim, im bürgerlichen Ambiente, machte sich niemand durch Lektüre verdächtig. Die Eltern unterstützten ihn, versorgten ihn mit deutscher und französischer Dichtung, brachten ihn mit François Villon und Otto Reutter in Berührung, schenkten ihm Ludwig Reiners’ Gedichtsammlung „Der ewige Brunnen“ oder „Die Lieder des Georg von der Vring“. Als Mey 1965 das erste Mal auf der Waldeck auftrat, wo die deutsche Liedermacher-Szene das Licht der Welt erblickte, hatte er noch keine eigenen Texte, sondern stattdessen einige dieser Gedichte vertont.

Und eines Abends trat da ein hochgeschossener Typ auf. Mit Baskenmütze, so ging es schon mal los. Er sang zur Gitarre, minimalistisch. „Ich ging mit meinem kleinen Strauß / ins Haus der Schönen / ins Haus der Schönen.“ Schönster, reinster Brassens. Schon die Wiederholung, typisch. Und die Art, wie das Lied seine Geschichte erzählt. Und die Geschichte selbst. Reinhard Mey dachte: Hier ist jemand, das ist der deutsche Brassens. Ein Juwel.

Unsere beiden Schatten

Bei meinen Großeltern, unter den schrägen Wänden, stand ein Musikmöbel, so eine zarte Kommode. Die linke Schiebetür war aus Glas und gab den Blick auf unerklärlichen Nippes frei. Die andere, glänzend lackiert, verbarg den Plattenspieler. Der war mit dem Röhrenradio verbunden, das oben auf der Kommode stand. Im untersten Fach der Plattenständer: links Singles, rechts Langspielplatten. Ein Dutzend vielleicht. Seltsamerweise waren die Schlitze durchnumeriert. Aber als Kind kam mir sowieso alles merkwürdig vor.

Ich spielte die Platten wieder und wieder. Die Singles: Ein Schiff wird kommen, Mustafa, Hör mein Lied, Elisabeth. Auf den Langspielplatten waren Kirchenlieder. Meine Mutter war tot. Die Kirche war für den Tod sowie alles, was damit zu tun hatte, zuständig, und sei es der Duft von Lilien. Meine Mutter war ein Engel, der sich um tote Kinder im Himmel kümmerte. Ihre Heimat war dort in der Höh, wo man nichts weiß von Trübsal und Weh, wo die heilge unzählbare Schar jubelnd preiset das Lamm immerdar. Ich fürchtete mich bis in das Mark vor blinden Frauen und sogenannten Entschlafenen.

Reinhard Mey im März 2007 bei einem Konzert in Köln
© dpa
Reinhard Mey im März 2007 bei einem Konzert in Köln

Die dritte Abteilung waren Märsche. Opa war einer von den sehr wenigen Jungen des Geburtsjahrgangs 1899, die beide Weltkriege als Soldat überlebt hatten. Er redete nie darüber. Er hatte erstaunliche Löcher im Rücken, wo ihm die Rippen fehlten, und noch andere tiefe Narben. Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, warum Opa die Marschmusik-Platten eigentlich hatte. Die Großeltern benutzten das Radio kaum, den Plattenspieler nie.

Genau wie die Schlager und manche Kirchenlieder prägten sich die Märsche leicht ein. Sie hatten was Schmissiges. Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich, jabinauchich. Holdio, duwi duwidi, holdria. Heute wollen wir marschiern, einen neuen Marsch probiern. In dem schönen Westerwald, ja da pfeift der Wind so kalt. Mussidenn. In der Heimat weint um dich ein Mägdelein. Und das heißt: Erika. Das waren Lieder, die mitzogen, die man von selbst lernte. Ich konnte nicht hören, was meine Großeltern hörten: Die Stiefel. Das Sterben.

Im Regal, drei Bretter nur, trocknete Kriegsgeschichte in dicken Schwarten, das Buch von Fest, die Erinnerungen von Speer. Schwejk, Hemingway, Lutherbibel. Mein Blut für euch vergossen. Nach dem Gottesdienst, zu Hause, sah und trank Vater Frühschoppen. Der Cognacschwenker wurde plan gefüllt. Werner Höfer redete mit fünf Journalisten aus sechs Ländern. Er sprach mit unerbittlicher Jovialität. Er war ein Vorbild für Vater, allerdings eines, dem nachzueifern zwecklos war. Wer so zu sprechen wusste, beherrschte nicht bloß sich, sondern jedwedes. Ich spürte die Macht in allem, im Trost, im Zorn, den Sehnsüchten und der Nüchternheit, aber ich wusste nicht, dass sie es war. Ich glaubte, es sei die Wirklichkeit. Ich wusste nicht, dass der Soundtrack des Krieges noch lief, sein langer Abspann.

Unterwegs nach Süden

Weil die Engländer für ihre Besatzungstruppen bei Bielefeld einen Golfplatz angelegt hatten, konnten sich die Jungs der Umgebung an einem Nachmittag als Caddy 50 Pfennig verdienen. Hans allerdings nicht, weil er keine Schuhe hatte. Nur für die kalte Jahreszeit bekam er Gummistiefel. In der warmen musste er barfuß laufen, barfuß wie die Frau auf der Rückseite dieser zierlichen Münze. Zu arm für die Feinen und zu fein für die Armen.

Bei den jazzaffinen Oberschülern wurde es besser. Seine Freundin Helga lernte Mode an der Werkkunstschule in Bielefeld. Sie überredete ihn, es dort ebenfalls zu versuchen. Er bewarb sich mit Zeichnungen nach der Natur und dem vorgeschriebenen Aufsatz. Warum ich Grafiker werden will. Mit Erfolg, er bekam den Platz. „Aber nur, wenn Sie sich verpflichten, Deutsch-Nachhilfe zu nehmen.“ Hans sagte zu, nahm keine Nachhilfe und lernte Deutsch ein Leben lang. Von den Mädchen bekam er seinen neuen Namen: Hannes. Den behielt er. Zwanzig war er inzwischen.

Der Musiker und Liedermacher Hannes Wader im Mai in Kassel im Garten seines Hauses.
© dpa
Der Musiker und Liedermacher Hannes Wader im Mai in Kassel im Garten seines Hauses.

Mit der Clique waren sie abends bei Helgas Freundin Margaux, der Apothekerstochter. Die legte eine Platte auf. Ein Sänger mit Gitarre. Hannes war wie schockgefroren. Da sang einer, der eigentlich gar nicht singen konnte. Aber mit einem schönen, sonoren Bariton. Man merkte, dass er sich Mühe gab. Er sang auffallend deutlich. Trotzdem verstand Hannes kein Wort. „Was macht der denn da?“ – Das ist Georges Brassens, sagte Margaux. Der macht seine Lieder selbst. Hannes dachte: Der spielt ja Gitarre wie ich. Genauso hatte er das in seinem Mandolinenverein gelernt, Wechselbass mit dem Daumen, und die Finger zupfen Akkorde. Das konnte er auch. Sogar besser. Es hörte sich zwar ein bisschen langweilig an, aber irgendwie auch vertraut. Nur eine Gitarre. Vielleicht noch ein Kontrabass, zweite Gitarre, ganz nett. Und diese Melodien . . . Ja, „was singt der da?“. Margaux übersetzte, teilweise. Einfache, normale Geschichten. Ein beiläufiger Alltagston. Und auch was Kratzbürstiges. Jedes Pathos rausgenommen. Nationalfeiertag? Ihr könnt mich mal, ich bleib im Bett.

„Und da war ich rettungslos, rettungslos verloren. Ich habe das vorher nicht gewusst, dass man so was singen kann.“

Margaux erzählte: Dass Brassens im Krieg als Zwangsarbeiter in Berlin gewesen war, auf Freigang in Paris untertauchte. Er fand Zuflucht bei einem Ehepaar, und auch jetzt, in Frankreich inzwischen ein Star, lebte er immer noch im Souterrain bei diesen einfachen Leuten. Das Lied, das Hannes hörte und das Margot übersetzte, zu dem sie die Geschichte erzählte, hieß „Chanson pour l’Auvergnat“: Alle schlugen die Tür vor mir zu, als ich fror. Aber du, Averner, hast mir etwas Brennholz gegeben. Das Feuer von damals wärmt mich noch immer. Als die Wohlanständigen mich hungern ließen, hast du, Wirtin, mir einen Kanten Brot geschenkt. Von diesem Festmahl zehre ich bis heute. Als die Büttel mich abführten und die stolzen Bürger Beifall klatschten, hast du, Fremder, mir ein betrübtes Lächeln geschenkt. In mir leuchtet es unverwandt. Toi l’Auvergnat, quand tu mourras, wenn du stirbst, Averner, quand le croquemort t’emportera, wenn dich der Leichenbestatter fortschafft, qu’il te conduise à travers ciel, wird er dich direkt in den Himmel bringen: Au père éternel.

Hannes fühlte sich vollkommen durchgeschüttelt, baff: Dass man so etwas machen konnte. Solche Geschichten erzählen. Solche Lieder singen. Er fand: Das kann ich auch. Von mir erzählen. Davon, wie ich lebe.

Aber erst einmal musste er das wieder und wieder anhören, er musste das lernen. So wie früher im „Waldfrieden“ den Jazz-Singles lauschte er jetzt bei Margaux, der Apothekerstochter, dieser Brassens-Platte. Eine zweite besaß sie nicht. „Le Sabots d’Hélène“, die schmutzigen Holzschuhe mit den königlichen Füßen darin. Margaux hätte Hannes die Platte auch geliehen. Aber er besaß ja keinen Plattenspieler. Also spielte er sie in ihrer Wohnung ab, ob Margaux nun dabei war oder nicht. Hannes lernte die Lieder auswendig, prägte sich die Akkordfolgen ein und spielte und sang alles zu Hause nach. Da er kein Französisch konnte, lernte er die Silben nach Gehör: „Twalowernja kwahtümura kwahle krokmor tempohtera killte kondwisa traweßjiell – opäretärnell.“ Mindestens hundert Mal spielte er die Platte ab. Danach war sie hin. Hannes sang jetzt die Brassens-Lieder zur Gitarre, wenn die jungen Leute – vorwiegend Mädchen –, abends zusammenkamen. Als er ein paar Jahre später nach Berlin zog, um sein Grafik-Studium an der Hochschule der Künste fortzusetzen, tat er, was er sich vorgenommen hatte. Er schrieb selbst solche Lieder. Eine Kommilitonin sagte: Weißt du eigentlich, dass es da einen Ort gibt, wo sich Leute treffen? – Was für Leute? – Ja, Leute, die so was singen. So Lieder. Die auch was schreiben. – Gibt es nicht, sagte Hannes Wader. Ich bin der Einzige, der so was macht.

Georges Brassens spielt 1972 in Paris mit seinem Papagei.
© dpa
Georges Brassens spielt 1972 in Paris mit seinem Papagei.

Und so kam er nach Burg Waldeck. Dort hörte er das erste Mal Franz Josef Degenhardt, und es liefen ihm Schauer über den Rücken. Und dort trat er selbst auf, mit Baskenmütze, Gitarre und den Blumen des Armen.

Alter Freund

In Waders Garten blühen viele Rosen. Darunter eine rote namens Frédéric Mey, von einem französischen Züchter. Ein deutscher hat seinen roten Flieder Hannes Wader genannt. Der wächst ein paar Meter weiter. Wir schreiben 2017, die beiden Sänger sind nun 75 Jahre alt. Wader sagt, ohne Brassens hätte es ihn als Liedermacher wohl nie gegeben. Mit fünfzig Jahren hat er seinetwegen noch Französisch gelernt, und jetzt kann er erklären, dass „quatre bouts de bois“ im Lied für den Averner nicht wirklich vier Holzscheite bedeutet, sondern ein paar, einige, vielleicht einen Armvoll.

Mey hat Brassens einmal getroffen, beinahe, fast. Er trat damals in der Fernsehsendung „Le Grand Échiquier“ auf, und da war auch Brassens, sein Idol. Er hatte die Garderobe eine oder zwei Türen weiter. Mey war entschlossen, ihm seine Aufwartung zu machen. Aber was sollte er ihm sagen? Monsieur Brassens, ich knie vor Ihren Liedern nieder? – Und Brassens hätte erwidert: Brav, mein Junge . . .?

Also ließ er es bleiben. Er würde es heute nicht anders machen. „Für mich ist der Zauber größer gewesen, die Garderobe neben ihm zu haben, ohne ihn mit meinem Händedruck zu belästigen.“ Er nennt ihn immer noch die Nummer eins, ein Gestirn bis auf den heutigen Tag – in Werk und Person, seiner Integrität und seiner Menschlichkeit.

In den siebziger Jahren liefen die Fäden wieder auseinander, die sich mit Brassens verknotet hatten. Wader stürzte von seinem größten Erfolg, der Platte „Sieben Lieder“ mit dem Gassenhauer „Heute hier, morgen dort“, in private Düsternisse und politische Radikalität. Mehr noch Franz Josef Degenhardt, der Übervater der deutschen Liedermacher der sechziger Jahre, der selbst stark von Brassens beeinflusst war. Doch während Brassens dem Leid eine Stimme gegeben hatte, das die Massenmörder über die Welt gebracht hatten, fingen Wader und Degenhardt wieder an, schon fast verklungene Kampflieder zu singen. Aus dem Schmerz in die Wut. Sie kehrten auch wieder, der eine früher, der andere später, und jeder auf seine Weise, zu Brassens zurück. Degenhardt als 75-Jähriger, mit einer Platte, die näher an Brassens ist als seine anderen alle, selbst die, auf der er nur Brassens-Lieder singt: „Dämmerung“. Darauf erklingt so melancholisch „Bruder Hans“, mit einem Echo vom Mississippi.

Reinhard Mey im Oktober 2014 beim Soundcheck in Göttingen
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Reinhard Mey im Oktober 2014 beim Soundcheck in Göttingen

Und Mey? Hatte Kinder bekommen. Seither schrieb er unzählige Lieder über seine Familie. Das kostete ihn zwar einen Teil seines Publikums – aber nur einen Teil. Und viele, die dann selbst Kinder hätten, kehrten als Zuhörer zu ihm zurück. Von all seinen Platten ist „Mein Apfelbäumchen“ die erfolgreichste: eine Sammlung von Liedern über Kinder. Liebevoll und frei wie kein anderer Künstler hat er die Familie besungen. Die Liebe, nach der sich alle sehnen.

1998, da waren Meys Kinder schon groß, erzählte er in einem Chanson vom letzten Ferienabend in Amerika, wie allesamt auf der Terrasse sitzen. Daneben ein altes Ehepaar aus Texas, er mit karierter Golfhose, sie mit Föhnfrisur, wandelnde Klischees. Die beiden zahlen, stehen auf und gehen. Doch da beugt der Mann sich noch mal zu Mey herab und sagt leise: „What a lucky man you are.“

Einen der Söhne hat Mey dann verloren, er ist tot. Das Lied, in dem der Vater sich von seinem Kind verabschiedet, heißt „Dann mach’s gut.“ Da lag Max schon lange, noch immer, im Koma. Und wie Orpheus bringt Reinhard Mey mit diesem Lied Felsen zum Weinen. Wie schafft er es nur, das zu singen, ohne dass seine Stimme bricht? Dieser Schmerz. Eine Wunde, die nicht heilt.

Zwei Gedichte, „La prière“, Gebet, von Francis Jammes, und „Il n’y a pas l’amour heureux“, Wahre Liebe gibt es nicht, von Louis Aragon: beide hat Brassens gesungen und beide mit derselben Melodie begleitet. Auch wer kein Französisch kann, versteht. So muss es Wader gegangen sein, damals, fast noch als Kind. Diese leise Stimme. Dieser andere Ton. Die Stimme des Schmerzes, ohne die Macht und die Kraft und die Herrlichkeit.