Musikalische Freundschaft : Begegnung – Rencontre
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Reinhard Mey bei seiner Herbsttournee: Am 21. Dezember dieses Jahres wird er 75 Jahre alt. Bild: Hella Mey
Reinhard Mey wird heute 75. Auch Hannes Wader feierte dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Beide waren gerade auf Tour. Wer hätte das vor fünfzig Jahren gedacht? Die beiden haben eine wundersam verflochtene Geschichte und ein gemeinsames Idol: den Chansonier Georges Brassens.
Mississippi
Vater schloss die Tür zu meinem Zimmer von innen. Das machte er nur, wenn es ernst wurde. Es sollte eine Frau vom Jugendamt kommen. Die wird auch mit dir sprechen, sagte Vater. Wenn sie dich fragt, warum du weggelaufen bist, dann musst du sagen: Aus Abenteuerlust. Du liest doch so gern Mark Twain. Erzähl ihr davon. – Ich nickte. – Sonst kann es sein, dass du ins Heim kommst, sagte Vater. Für Schwererziehbare.
Später kam die Frau vom Jugendamt. Man hörte die Stimmen durch die Stubentür. Danach ging die Frau zu mir. Sie trug einen Dutt. Sie sah mich mit kalten Augen an. Sie fragte, warum ich fortgelaufen sei. Es war schon Monate her. Ich sagte: Aus Abenteuerlust. Sie sagte: Ja. Was wolltest du denn erleben? Ich erzählte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Offenbar kannte sie das Buch nicht.
Beim ersten Mal war ich zehn gewesen, auch im Winter. Jetzt zwölf. Am Straßenrand lag grauer Schnee. Ich schaffte, per Bahn und per Anhalter, keine hundert Kilometer. Es wurde schon dunkel. Ein Autofahrer übergab mich der Polizei. Beim dritten Mal war ich fünfzehn, beim vierten Mal sechzehn. Dann war ich frei. Ich trampte viel. Am Straßenrand vertrieb ich mir das Warten mit Gedichten. Oder sang. Ich bin unterwegs nach Süden und will weiter bis ans Meer. Will mich auf heiße Kiesel legen, und dann brennt die Sonne mir die Narben aus dem Nacken, jeden Kratzer, jeden Fleck. Dass von den tausend Händen, die mich das ganze Jahr befingert und geschlagen haben, keine Spur mehr übrig bleibt. Ich bin aus jenem Holze geschnitzt, in das man ein Herz und zwei Namen ritzt.
Blumen des Armen
Zu der Zeit, als die Tante vom Jugendamt bei uns aufschlug, 1970, trällerte im Treppenhaus ein dickes Mädchen Tag für Tag mit heller Stimme: Ich weiß, so ein Mädchen ist eiheigehentlich viel zu schade für mich, viel zu schahade für mich. Es klang wie ein Kinderlied, eins von jeher. Aber es stammte aus dem Radio, von einer ziemlich neuen Platte. „Hannes Wader singt . . .“ Nur Gesang und Gitarre. Das Cover zeigte sein Bild: schwarzes Cape, schwarzer Schlapphut, wallendes Haar, Knebelbart und sardonisches Grinsen. So lief er auch herum in den sechziger Jahren. Nur das Grinsen fehlte.
In diesem Aufzug sprang er auf einen Zug, den er im letzten Augenblick erreicht hatte. Damals konnte man an den Waggons noch von außen die Tür aufreißen. Aber war es überhaupt das richtige Gleis gewesen? Wader fragte einen Herrn im Abteil. „Wohin fährt denn dieser Zug?“ Der Herr las die Frankfurter Allgemeine. Ein kluger Kopf. Gehobenes Herkunftsmilieu. Er musterte den Freak, schwarzes Cape, schwarzer Schlapphut und so weiter. Dann erwiderte er: „Das hier ist die erste Klasse.“
Fünfzig Jahre später lacht Wader darüber, aber eher gequält. Er kann kaum aufhören, und bald klingt es mehr wie Schreien. Sein Thema, schon immer. „Auch ich stamme aus einem alten Geschlecht – von Leibeigenen, noch mein Vater war Knecht.“
Allerdings war die ganze Familie musikalisch. Und sozialdemokratisch. Der Vater gehörte zu den Gründern der örtlichen Mandolinen-Combo. Wären sie Kommunisten gewesen, hätte Hans Schalmei gelernt. Die Kommunisten waren Revolutionäre, sie brauchten einen aggressiven Sound. Auch die Nazis, die sich viel von den Kommunisten abgeguckt hatten, bevorzugten durchdringende Klänge. Nicht umsonst gründete Horst Wessel in der SA schon früh eine Schalmeien-Kapelle. Und nach dem Untergang des „Dritten“ Reiches setzte die DDR die Schalmei-Tradition fort.