Orbáns Schaukelpolitik : Was steckt hinter der Verzögerung der NATO-Erweiterung?
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 16. März in Ankara Bild: dpa
Ungarn will den NATO-Beitritt Finnlands nun ratifizieren, Schweden lässt man weiter warten. Aber gedanklich beginnt Orbán, sich allmählich von Russland zu lösen.
Für diesem Montag steht im ungarischen Parlament die Ratifizierung des NATO-Beitritts Finnlands auf der Tagesordnung. An einer Zustimmung gibt es keinen vernünftigen Zweifel. Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán unterstützt erklärtermaßen die Norderweiterung der Allianz, die Abgeordneten seiner Fidesz-Partei pflegen zu folgen, und überdies ist die Opposition bis auf den äußerst rechten Rand auch dafür. Aber warum steht dann nur Finnland auf der Tagesordnung? Verbal ist auch der Beitritt Schwedens von Orbán als Stärkung der NATO und damit im Interesse Ungarns liegend bezeichnet worden. Und warum wurde der Ratifizierungsprozess überhaupt so lange hingezogen, dass Ungarn bis jetzt mit der Türkei das letzte Hindernis für die Norderweiterung darstellte?
Monatelang wurde auf angebliche Terminzwänge verwiesen, verursacht durch EU-Reformforderungen zur Rechtsstaatlichkeit. Das kann man getrost als Blendwerk betrachten. Ebenso die zuletzt aufgebrachte Argumentation, dass die Fidesz-Abgeordneten Gewissenszwänge bekämen, zwei Länder in die NATO aufzunehmen, aus denen Ungarns Rechtsstaatlichkeit so vehement kritisiert worden sei. Zuletzt verbreitete sich Balázs Orbán, der mit dem Chef nicht verwandte politische Direktor des Ministerpräsidentenamts, via Twitter über die Frage des schwedischen Regierungschefs Ulf Kristersson, was für ein Problem Ungarn denn mit seinem Land habe. Balazs Orbán zitierte frühere Aussagen Kristerssons und zweier seiner Minister darüber, dass die EU die Regierung in Budapest unter Druck setzen müsse, und fügte hämisch hinzu: „Guten Morgen, Stockholm.“
Es mag schon sein, dass man es in Budapest nebenbei genießt, die Kritiker aus dem Norden ein bisschen zappeln zu lassen. Aber vor allem versucht Orbán offensichtlich, im Streit mit den EU-Institutionen über Rechtsstaatlichkeit und Mittelvergabe seine spärlichen Trumpfkarten so lange wie möglich in der Hand zu behalten. Nebenbei kann er Signale der guten Absichten senden, nicht zuletzt an den starken Mann in Ankara, mit dem er auf gutem Fuß steht. Dass auch Ungarn die Sache Schwedens von der Finnlands trennt, davon war nie die Rede, bis die Türkei dies tat und Orbán Mitte März nach Ankara reiste. Nachdem seine einstigen Gleichgesinnten in der Visegrad-Gruppe, vor allem Polen, mit ihm gebrochen haben, muss er die verbliebenen Freunde pflegen. Dass Orbán auch ohne den Windschatten des türkischen Präsidenten Erdogan seine Blockade fortsetzen würde, ist nicht zu erwarten.
Ein Signal nach Moskau
Aber in erster Linie ist das Signal natürlich als an Moskau gerichtet verstanden worden. Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine versucht Orbán sich durchzuschaukeln. Er trug die meisten Sanktionen und Erklärungen der EU mit, indem er sie mindestens nicht blockierte, aber zugleich setzte er sich mindestens rhetorisch ab. Jüngstes Beispiel ist der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin. Ungarn würde ihn nicht vollstrecken können, gab Orbáns Kanzleramtschef Gergely Gulyás vorige Woche überraschend an. Es fehle dafür die Rechtsgrundlage. Dabei ist Ungarn vorbehaltlos dem Strafgerichtshof beigetreten, und zwar in Orbáns erster Regierungszeit von 1998 bis 2002. Offenbar fehlt noch ein Gesetzgebungsschritt, bei politischem Willen wäre das kein Problem. Aber die Frage stellt sich ja sowieso nicht, niemand erwartet jetzt einen Besuch Putins in Ungarn.
Mit dem erklärten Ziel, die Beziehungen zur ukrainischen Regierung zu verbessern, hat dieser Tage Außen-Staatssekretär Levente Magyár eine Reise nach Kiew angekündigt. Wichtigster Streitpunkt aus Sicht Budapests sind die Minderheitenrechte der ungarischsprachigen Ukrainer in Transkarpatien. Außenminister Péter Szijjártó war dann wieder für den angriffslustigen Part vorgesehen: Ungarn werde die EU-Integration der Ukraine nicht unterstützen, solange die ungarischen Schulen in jener Region von der Schließung bedroht seien, verbreitete Szijjártó am Samstag.
Einen Einblick in die Gedankenwelt, die seiner Schaukelpolitik zugrunde liegt, gewährte Orbán Anfang März, als er auf einer Veranstaltung der ungarischen Industrie- und Handelskammer das Wort ergriff. Eigentlich wollte er seine Wirtschaftspolitik preisen, aber eine Bemerkung eines Vorredners über den Wunsch und die Erwartung, dass die russisch-europäischen Wirtschaftsverbindungen nach dem Krieg wieder aufleben würden, veranlasste Orbán zu einem Exkurs. Wünschenswert ja, meinte Orbán, aber keineswegs zu erwarten. Denn im Zuge des Krieges finde eine „Neuordnung der Machtstruktur Europas“ statt. Nur halb ausgesprochen schwingt mit: im Interesse und herbeigeführt von den Vereinigten Staaten.
Orbán sieht Machtverschiebung in der EU
Bislang, so Orbán, habe die europäische Wirtschaftskraft auf billiger Energie und Rohstoffen aus Russland beruht, das habe man jetzt gelöst. Energie werde natürlich weiterhin benötigt, „die eine Abhängigkeit wird langsam, aber sicher durch eine Abhängigkeit in die andere Richtung ersetzt“. Zugleich verschiebe sich das europäische Machtzentrum von der bisherigen deutsch-französischen Achse hin zu einer „neuen nordmitteleuropäischen Region“ mit Polen als Herzstück – und auch der Ukraine (je nachdem „wie viel von der Ukraine übrig bleiben wird“).
Für Ungarn gelte angesichts dessen, wegen der Energieabhängigkeit möglichst viel von den Beziehungen zu Russland „hinüberzuretten“. „Doch ob dies gelingt, bis zu welchem Grad das gelingt, hierauf kann heute niemand eine Antwort geben.“ Man darf gespannt sein, wie sich Orbán auf das angenommene neue Machtzentrum künftig einlässt. Bislang hat er es sich ja dort mit allen verscherzt.