Schäuble zur Flüchtlingskrise : „Wir können uns nicht wegducken“
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„Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich Russland wieder besinnt“, Wolfgang Schäuble über den Ost-West-Konflikt. Bild: Jens Gyarmaty
Bundesfinanzminister Schäuble im Gespräch: über Zeitenwenden, Chancen und Grenzen der Zuwanderung, die deutsche Führungsrolle in Europa, Putin, Tsipras – und die Niveaulosigkeit im politischen Diskurs.
Herr Minister, allenthalben heißt es, die Welt sei aus den Fugen. Ein Beinahekrieg in der Ukraine. Viele Staaten des Nahen Ostens sind zerfallen. Stehen wir vor einer Zeitenwende, vergleichbar mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion?
Diesen Eindruck kann man bekommen. Es gibt aber einen Unterschied: Beim Zusammenbruch der Sowjetunion waren wir uns darin ganz sicher. Es handelte sich um einen der seltenen Fälle in der Geschichte, in dem wir sofort wussten, jetzt beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte. Gleichwohl: Wenn man sich anschaut, durch was für einen Umbruch die islamische Welt geht, kann man wieder den Eindruck von einer Zeitenwende gewinnen.
Die Welt ist von einer großen Unruhe erfasst. Neue Akteure treten an, alte verschwinden. In solcher Geschwindigkeit hat es das lange nicht mehr gegeben.
Ja, das sehe ich auch so. Oft frage ich mich, ob es hier Bezüge zur Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung gibt, vor allem in der Kommunikationstechnologie. Anfang der neunziger Jahre, was ja noch nicht so lange her ist, war das Internet eine Sache für wenige Spezialisten. Die technologischen Sprünge verändern die Welt. Als Finanzminister, der die internationalen Finanzmärkte zu beachten hat, nehme ich das besonders intensiv wahr. Dies alles führt dazu, dass Probleme viel stärker und viel schneller als früher globalisiert werden. Alles rückt zusammen und beschleunigt sich. Damit werden auch die Widersprüche schneller für uns spürbar. Auch die Zuwanderungswelle nach Deutschland ist eine Folge. Für uns ist das eine Herausforderung – übrigens auch im Positiven. Die Zuwanderung von Menschen ist eine Chance für unser Land.
Zurzeit suchen Hunderttausende Menschen in Deutschland und in ganz Europa eine neue Bleibe. Sie kommen aus Afrika, Syrien, Staaten des westlichen Balkans. Sehen Sie hinter den unterschiedlichen Motiven etwas Gemeinsames? Handelt es sich in Wirklichkeit um eine klassische Völkerwanderung?
Völkerwanderungen im klassischen Sinne hat es immer gegeben, übrigens auch zum Teil aus ähnlichen Gründen wie heute. Nach 1945 wurden auf dem Gebiet der Bundesrepublik ebenfalls Millionen Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht.
Das waren aber Deutsche.
Das ist wahr, aber die Welt heute ist nun einmal enger zusammengerückt. Der entscheidende Unterschied zu früher ist, dass wir mit den Unterschieden und Ungleichzeitigkeiten einer vernetzten Welt viel stärker und schneller konfrontiert werden. Da wir Deutsche und Europäer international an der Spitze der Wohlstandspyramide stehen, müssen wir das aushalten.
Sie haben kürzlich gesagt, die Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen seien finanziell für Deutschland verkraftbar. Sind sie auf Dauer verkraftbar? Vor allem; Sind sie politisch verkraftbar?