Debatten im Bundestag : Widerrede erwünscht
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Wer darf reden im Deutschen Bundestag? Bild: dpa
Jeder hat das Recht, anders zu denken. Die Debatte lebt von Rede und Gegenrede. Wer aus Machtpolitik andersdenkende Abgeordnete mundtot macht, beschädigt die Demokratie.
Wie gehen wir mit Minderheiten um? Darin zeigt sich die Qualität einer Demokratie. Jeder hat das Recht, anders zu denken, das Recht, anders zu reden. Das Wort ist frei. Wenn man ein Wort verbieten sollte, dann das Wort „alternativlos“. Es ist undemokratisch. Alternativlos glaubte sich der Sozialismus. Für ihn war Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. Dann gibt es nichts mehr abzuwägen. Dann sind Debatten überflüssig. Das Wort „alternativlos“ macht mundtot.
In der parlamentarischen Demokratie wäre eigentlich die Opposition für die Alternative zuständig. Schließt sie sich diese der herrschenden Meinung an, wie in der Eurodebatte, droht die Minderheit nicht mehr zu Wort zu kommen. Zweifel an der Euro-Rettungspolitik, wie die Regierung sie nennt, äußern nur noch die Linkspartei und wenige Dissidenten der Regierungsparteien. Diese werden „Abweichler“ genannt. Das Suffix „Ler“, an den Verbstamm angehängt, hat eine negative, abwertende Bedeutung. Neutral wäre: Abweicher. Ein Abweichler ist ein Störenfried, ein Querulant, ein Ärgernis.
Es verlangt Mut
In der Diktatur kann es lebensgefährlich sein, der herrschenden Meinung zu widersprechen. In der Demokratie verlangt es Mut, von der Mehrheitsmeinung der eigenen Partei abzuweichen. Nach außen gewinnen „Abweichler“ zwar Aufmerksamkeit, sogar Prestige. In der Partei selbst setzen sie sich Ausgrenzung und Sticheleien aus bis hin zur offenen Beschimpfung. „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen!“ raunzte Kanzleramtschef Ronald Pofalla Wolfgang Bosbach an.
Bei Bundestagsdebatten steht das Abstimmungsergebnis in der Regel im Vorhinein fest. Es geht nicht mehr darum, die Gegner zu überzeugen. Trotzdem lebt die Debatte von Rede und Gegenrede. Lassen aber die Fraktionen, die ihre Redner aufstellen, die Andersdenkenden nicht zu Wort kommen, gibt es keine Gegenrede mehr. Sie können zwar in einer Erklärung ihre Meinung begründen. Aber von der Debatte sind sie ausgeschlossen.
Das, so befand im Herbst Bundestagspräsident Norbert Lammert, könne für eine Entscheidung über 211 Milliarden Euro nicht richtig sein. So ließ er kraft seines Amtes zwei Andersdenkende von CDU und FDP zu Wort kommen, obwohl sie von ihren Fraktionen nicht als Redner auserkoren worden waren. In jeweils fünf Minuten konnten Klaus-Peter Wilsch und Frank Schäffler darlegen, warum sie den Rettungsschirm für falsch halten. Die Fraktionsführungen waren erbost. Der Ältestenrat erteilte Lammert eine Rüge. Der ließ sich nicht beirren. Bei nächster Gelegenheit gab er Wilsch und Schäffler abermals das Wort zur Widerrede.
Lammert kann sich auf das Grundgesetz berufen
Jetzt geht der Machtkampf zwischen den Fraktionsführungen und dem Parlamentspräsidenten in eine neue Runde. Auf Anweisung des Ältestenrats wurde beantragt, Lammert per Geschäftsordnung Einhalt zu gebieten. Dem Bundestagspräsidenten soll es künftig nicht mehr erlaubt sein, ohne Absprache mit den Fraktionen Redner zu benennen. Wenn es nach dem Ältestenrat geht, soll dieses Verbot natürlich möglichst geräuschlos ohne Debatte und Widerrede beschlossen werden. Lammert will sich widersetzen und sieht das Bundesverfassungsgericht auf seiner Seite: Karlsruhe hatte schon einmal festgestellt, dass es sehr wohl zulässig ist, dass einzelne Abgeordnete gegen den Willen der Fraktion Rederecht erhalten.
Lammert kann sich auf Artikel 38 des Grundgesetzes berufen. Danach sind die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Einen Fraktionszwang, sich der Mehrheitsmeinung der Fraktion anzuschließen, gibt es nicht. Das Grundgesetz sieht nicht einmal die Fraktionen vor. Sie sind nur ein Mittel, um die parlamentarische Arbeit zu erleichtern.
Der Konflikt zwischen der Unabhängigkeit der Abgeordneten und der Notwendigkeit, verlässliche Mehrheiten zu organisieren, gehört zum politischen System. Aber er muss mit Augenmaß ausgetragen werden. Das Argument, wenn man jedem zu reden erlaube, wie er wolle, ließe sich Parlamentsarbeit nicht mehr organisieren, ist vorgeschoben. Wenn hin und wieder ein Andersdenkender zu Wort kommt, blockiert das nicht das Parlament. Dessen Arbeitsfähigkeit wird als Vorwand benutzt, um Minderheiten zum Schweigen zu bringen. Leichtfertig aus machtpolitischen Erwägungen die Grundprinzipien des Parlamentarismus zu unterhöhlen beschädigt die Demokratie.
Denn die Abgeordneten sind nach dem Grundgesetz nicht die Vertreter ihrer Partei oder Fraktion, auch nicht ihres Wahlkreises. Sie sind die Vertreter des ganzen Volkes. In der Eurodebatte sind sie verpflichtet, auch dessen Bedenken und Besorgnis zu Wort kommen zu lassen. Das Gleiche hätte für den Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg gegolten. Und ein nächster Fall könnte deutsche Unterstützung für Israel im Falle eines Militärschlags gegen Iran sein. Wer Abgeordnete mundtot macht, macht das Volk mundtot.