Wer rettet die Privatsphäre? : Letzte Ausfahrt Europa
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Letzte Bastion gegen die Willkür im Umgang mit personenbezogenen Daten? Das Europäische Parlament in Brüssel Bild: Cunitz, Sebastian
Wie können wir den digitalen Krieg aller gegen alle beenden? Mit einer Datenschutz-Grundverordnung. Europa muss sie nur noch auf den Weg bringen. Deswegen ist die Wahl so wichtig. Ein Gastkommentar.
Was tut man als politisch obdachloser Bürger angesichts der ausufernden Massenüberwachung? Man kann sich einreden, es gäbe ohnehin keine zu schützende Privatsphäre mehr. Man kann auch der Aufforderung des ehemaligen Innenministers Friedrich zur digitalen Selbstverteidigung folgen, sich aus Social Media zurückziehen, Wichtiges nicht mehr am Telefon besprechen und sich PGP und TOR herunterladen. Oder man erkennt, dass es Verbündete auf einer anderen Ebene gibt.
Zum Beispiel in Straßburg. Vor einigen Wochen hat Martin Schulz in einem Essay die digitale Revolution mit der industriellen Revolution verglichen und aus dieser Parallele eine Pflicht zu politischer und legislativer Gestaltung abgeleitet. Auch die Sozialgesetzgebung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde gegen mächtige Interessen durchgesetzt. Mit dem Datenschutz wird es nicht anders sein. Immer wieder weist Schulz darauf hin, dass es nicht um kleine technische Korrekturen, sondern um große gesellschaftliche Fragen geht. Wie sieht unser Menschenbild im Kommunikationszeitalter aus? Wie wollen wir leben?
Im Gegensatz zu den meisten seiner Politikerkollegen hat Schulz verstanden, dass die neuen Technologien in der Lage sind, Gesellschaften bis an die Wurzel zu verändern, mindestens so sehr wie Atomkraft oder Gentechnik. Wir müssen deshalb festlegen, was zu welchem Zweck von wem und unter welchen Bedingungen gemacht werden darf. Dafür brauchen wir, ganz einfach, Gesetze. Weil sich die digitale Revolution nicht an Landesgrenzen hält, muss auch die begleitende Gesetzgebung supranational sein.
Mediale Missachtung
Eine Institution, welche die dazu erforderliche legislative und politische Macht besitzt, ist die Europäische Union. Leider wird diese Tatsache kaum zur Kenntnis genommen. In dieser anhaltenden medialen Missachtung spiegelt sich das schwindelerregende Paradoxon zeitgenössischer Politik: Während immer mehr fundamentale Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, muss man nach wie vor nur „Straßburg“ oder „Brüssel“ sagen, um sicherzustellen, dass man quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit operiert.
So kommt es, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, wie kurz wir eigentlich vor einem entscheidenden ersten Schritt bei der Domestizierung des digitalen bellum omnium contra omnes stehen. Während nicht nur Bürger, sondern auch viele Politiker glauben, den Nebenwirkungen des Informationszeitalters mangels realistischer Handlungsoptionen tatenlos beiwohnen zu müssen, gibt es längst einen substantiellen Gesetzesentwurf, der beweist, dass es sehr wohl möglich wäre, etwas zu tun. Wenn man nur wollte.
Die Rede ist von der Datenschutz-Grundverordnung, die von der Europäischen Kommission im Januar 2012 vorgestellt wurde. Um wenigstens die Reichweite anzudeuten, lassen sich drei Punkte erwähnen. Erstens: Die Verordnung gewährt dem Einzelnen umfassende Datensouveränität, was bedeutet, dass personenbezogene Daten nur noch mit ausdrücklichem Einverständnis erhoben und verarbeitet werden dürfen und auf Wunsch gelöscht werden müssen. Zweitens: Die Verordnung soll extraterritorial gelten, also auch für Unternehmen, die ihren Sitz außerhalb der EU haben, aber ihre Dienstleistungen auf dem europäischen Markt anbieten wollen. Drittens: Unternehmen, die gegen die Verordnung verstoßen, müssen mit Strafgeldern von bis zu fünf Prozent ihres Jahresumsatzes rechnen.
Nichts ist perfekt
Manche Kritiker wenden ein, die Datenschutzverordnung gehe in ihrem Regelungsgehalt noch immer nicht weit genug. Aber in Demokratien bekommt man eben niemals alles und niemals sofort, nichts ist perfekt. Das ist das Wesen von Kompromissen: Die beste Lösung ist eigentlich dann gefunden, wenn am Ende alle gleich unzufrieden sind. Wer daraus ableitet, es sei besser, überhaupt nichts zu tun, erteilt nicht nur der Politik, sondern der ganzen demokratischen Idee eine grundsätzliche Absage. Nur vor diesem Hintergrund kann man erkennen, was für ein erstaunlicher, mutiger und vielversprechender Schritt die geplante Datenschutz-Grundverordnung ist: eines der größten Gesetzgebungsprojekte der Europäischen Union. Sie zu verhindern, weil man mehr will, wäre der dümmstmögliche Schachzug.