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F.A.Z. Machtfrage : Hat die Politik nichts aus der Pandemie gelernt?

Team Vorsicht? Die Union verlangt, dass der künftige Kanzler Olaf Scholz sich mehr beim Corona-Management einmischt. Bild: dpa

Die Corona-Zahlen sind so hoch wie nie – und die alte und die neue Regierung streiten. Nun haben die Ampel-Verhandler ein Corona-Gesetz vorgelegt. Werden Sie so das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen können?

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          Es war beim zweiten TV-Triell von Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, als die Grünen-Kanzlerkandidatin einen erstaunlichen Vorschlag machte. Die Corona-Lage war damals schon angespannt, aber sie war längst nicht so dramatisch wie heute, wo die Inzidenz über dem Wert von 200 liegt und die Intensivstationen mancherorts schon voll sind mit Covid-Patienten.

          Mona Jaeger
          Stellvertretende verantwortliche Redakteurin für Nachrichten und Politik Online.

          Baerbock sagte also, wenn man etwa bei der Pflege und den Kliniken in eine Situation komme, dass nicht genug Menschen geimpft seien, müsse auch die Frage einer Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen angegangen werden. Das war ein ziemlicher Hammer. Denn um das Thema Impfpflicht hatten die Kanzlerkandidaten bislang alle einen großen Bogen gemacht, zu sehr hatten sie sich vorher schon über Monate festgelegt: Egal was andere Länder machen mögen, eine Impfpflicht wird es in Deutschland nicht geben.

          Spaltung der Gesellschaft: Demonstration in Wien, in Österreich gilt nun eine umfassende 2-G-Regel.
          Spaltung der Gesellschaft: Demonstration in Wien, in Österreich gilt nun eine umfassende 2-G-Regel. : Bild: Imago

          Auf Baerbocks Vorschlag ging deswegen auch niemand wirklich ein. Auch die Kandidatin selbst griff ihn nicht mehr auf. Er gewährte allenfalls einen kleinen Blick in ihr Inneres - was sie sich eigentlich wünschen würde, was aber politisch nicht opportun ist.

          Nun sind einige Wochen vergangen, die Grünen verhandeln mit FDP und SPD über eine Ampel-Regierung, und es droht ein katastrophaler Corona-Winter. Konnte man beim Baerbocks verpuffendem Vorstoß aus dem Triell noch annehmen, aus Rücksicht auf den Wahlkampf geht keiner das heiße Thema Impfpflicht an, mussten wir nach der Wahl erfahren: Nein, auch danach traut sich da niemand ran.

          Mahnt die Kanzlerin zur Zurückhaltung: Marco Buschmann
          Mahnt die Kanzlerin zur Zurückhaltung: Marco Buschmann : Bild: dpa

          Die Politik, so hat man manchmal das Gefühl, ist kaum weitergekommen. Wir diskutieren wieder über dieselben Fragen wie vor einem Jahr: Wie können wir vor allem die Alten besser schützen? Braucht es eine Testpflicht in Heimen? Und das, obwohl wir inzwischen einen wirksamen Impfstoff haben. Am deutlichsten wird die Ratlosigkeit der Politik am Beispiel der Bürgertests. Das kostenlose Angebot wurde vor einem Monat gestrichen, weil man so hoffte, den Druck, zur Impfung zu gehen, zu erhöhen. Nur leider funktionierte das nicht wirklich. Und die fehlenden Tests werden jetzt zum Risiko, angesichts auch von einigen Impfdurchbrüchen. Mühsam diskutieren die Politiker also über die WIedereinführung der kostenlosen Tests, die jetzt wohl kommen werden. Hätte man sich das nicht sparen können?

          Corona spielte im Bundestagswahlkampf eine erstaunlich kleine Rolle. Das lag an dem simplen Umstand, dass der Wahlkampf im Sommer stattfand und die Infektionszahlen recht niedrig waren. Und jetzt, wo wir uns in einem Zwischenstadium zwischen noch geschäftsführender Regierung und noch nicht gewählter neuer Regierung befinden, steigen die Zahlen rasant. Der Herbst ist in Corona-Zeiten keine gute Zeit zum aushandeln einer neuen Regierung. Corona wartet nicht, bis sich die Ampel-Parteien einig sind.

          Bereit zum Bund-Länder-Treffen: Angela Merkel
          Bereit zum Bund-Länder-Treffen: Angela Merkel : Bild: dpa

          Das sehen die grundsätzlich auch so und haben deswegen Handlungsstärke demonstrieren wollen. Sie haben nun den Entwurf für ein Corona-Gesetz vorgelegt. Das wurde nötig, weil Ende des Monats die Corona-Notlage ausläuft, die bisher die gesetzliche Grundlage für die Einschränkungen in Bund und Ländern lieferte. Den ersten Anstoß bot Jens Spahn, noch geschäftsführender Bundesgesundheitsminister von der CDU. Er schlug vor, die Notlage nicht zu verlängern. Aber was dann? Das überließ er den Ampel-Parteien. Nicht nur bei Corona, aber auch da, profiliert sich die FDP, obwohl sie die kleinste der Verhandlungspartner ist. Die FDP hat an vielen Zeitpunkten in der Pandemie klar gemacht, dass sie einen anderen Weg einschlagen wollen würde als Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zum Team Vorsicht gehörte. Nun kann die FDP das an einigen Stellen durchsetzen. Marco Buschmann, der FDP-Fraktionsgeschäftsführer, forderte Merkel gar zur Zurückhaltung bei Corona auf.

          Grüne und SPD sind skeptischer, aber ziehen mit. So wird die Notlage also enden. Die meisten Entscheidungsbefugnisse werden den Ländern übertragen, sie können vor Ort - je nach Infektionsgeschehen - Maßnahmen wie 3G oder 2G, Masken- und Abstandsregeln beschließen. Die Bekämpfung der Pandemie erinnert an einen Schweinezyklus: Mal soll der Bund die Dinge bundeseinheitlich regeln, dann mal wieder die Länder dezentral. Wir sind also gerade mal wieder im Zyklus der Länder angekommen. Und im März, so vermuten es die Ampel-Partner, ist dann das Schlimmste vorbei, ihr Corona-Gesetz läuft aus.

          Es wird eng: Intensivstation im Uniklinikum Leipzig.
          Es wird eng: Intensivstation im Uniklinikum Leipzig. : Bild: dpa

          Für die Ampel-Parteien ist das ein wichtiges Projekt. Zum einen wollen sie demonstrieren, dass die Ampel funktioniert, bevor Olaf Scholz überhaupt zum Kanzler gewählt ist. Dass sie auch vorher schon vertrauensvoll und professionell zusammenarbeiten können. Und zum anderen ist es für die Bürger das erste Mal, dass sie ein Gefühl dafür bekommen können, was die neue Regierung für ihr Leben praktisch bedeuten wird. Zu Beginn der Pandemie war das Vertrauen der Bürger in ihre Politiker erstaunlich groß. Sie gaben ihnen einen Vertrauensvorschuss. Der aber wurde immer kleiner. Können die Ampel-Parteien dieses Vertrauen wieder zurückgewinnen?

          Von der Union, ganz in der Oppositionsrolle angekommen, wird das noch befeuert: “Wo ist die Ampel? Wo ist Olaf Scholz?”, fragte etwa CSU-Chef Markus Söder. Natürlich muss sich die Union wiederum den Vorwurf gefallen lassen, warum sie, bis vor kurzem ja noch offiziell in Amt und Würden, offenbar an vielen Stellen die Gesellschaft ungeschützt in den Corona-Herbst und -Winter hat laufen lassen. Die nicht zündende Impfkampagne lief schließlich noch unter ihrer Regie, genauso die Abschaffung der kostenlosen Bürgertests.

          Einige Zeit hatte man das Gefühl, dass Corona es etwas unwichtiger machte, wer in welcher Partei ist. Zwar gab es Konflikte, aber sie waren grundsätzlicher Natur, verliefen zwischen Bund und Ländern, nicht automatisch zwischen Parteifarben. Das scheint nun endgültig vorbei zu sein. Noch immer unklar ist, ob es mal wieder eine Ministerpräsidentenkonferenz geben wird. Die Union, inklusive Merkel, ist dafür, die SPD-geführten Länder dagegen. Was wolle man schon besprechen? Kanzleramtsminister Helge Braun, nah an Merkel dran, warf dann auch Scholz in der F.A.Z. vor, er handle verantwortungslos, wenn er aus Rücksicht auf die Ampel-Partner ein Bund-Länder-Treffen hintertreibe.

          Die Union steht nun vor einer kniffligen Frage: Soll sie dem Corona-Gesetz der Ampel-Parteien im Bundestag und Bundesrat zustimmen? Oder wird sie es mit inhaltlichen Argumenten ablehnen, dafür aber den Bürgern den Eindruck von Verunsicherung und Vielstimmigkeit vermitteln? Diese Frage wird sich wohl noch einige Male stellen. Denn Corona macht nicht den Eindruck, als würde es bald Ruhe geben.

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