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Bürokratie : Um der Lebensqualität willen

  • -Aktualisiert am

Bürokratie ist nicht so schlecht, wie sie gemacht wird. Ein Leben ohne sie führt in die Katastrophe. Nur mit einer starken Bürokratie lässt sich Lebensqualität sichern und steigern.

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          Verheerender als die Bürokratie ist der Mangel an Bürokratie. Dieser Satz bringt freie Geister auf die Barrikaden. Bürokratie, die strikte Verwaltung nach allgemein anerkannten Grundsätzen, steht im Ruf der Gängelung des Alltags, der Belastung der Erwerbsarbeit, der Behinderung der Wohltätigkeit.

          Nach jedem Unglück, jeder Katastrophe wird nach unbürokratischer Hilfe gerufen und diese meist auch versprochen. In den Monaten, oft sogar Jahren danach, wenn sich der Staub der Erdbeben längst gelegt oder die Flut zurückgezogen hat, merken zuerst die örtlichen Überlebenden und später auch die spontanen Helfer und Spender, dass die Hilfe tatsächlich unbürokratisch erfolgt ist, nämlich ineffizient: die Schadensbeseitigung ist improvisiert, der Wiederaufbau unkoordiniert, das Ergebnis ungerecht.

          Mittel der Vorbeugung

          Bürokratie ist aber keineswegs nur ein Helfer im Katastrophenfall, sie ist das wirksamste Mittel der Vorbeugung gegen Katastrophen, auch wenn sie in solchem Zusammenhang fast nie erwähnt wird. Bürokratie ist dem allgemeinen Sprachgebrauch nach, der das Mehrheitsgefühl gegenüber einem bestimmten Sachverhalt wiedergibt, eine lästige Erscheinung, angezettelt von unsympathischen Wichtigtuern, überflüssig wie ein Kropf.

          Nicht nur freisinnige Parteiprogramme sagen der Bürokratie den Kampf an, bürgerliche und kollektivistische politische Strömungen könnten sich, falls sie sich überhaupt verständigen wollten, dies am leichtesten auf Kosten der Bürokratie tun: Entbürokratisierung ist ein wohlfeiles Versprechen.

          Doch die so einhellig Bekämpfte, oft Verspottete, gar Verleumdete, hat ihre guten Seiten. Kabarettisten ist der Applaus gewiss, wenn sie die Bürokratie zum Teufel wünschen. Doch trägt die so verachtete Idee und Einrichtung - die Bürokratie ist beides in einem - mindestens so viel zur Lebensqualität der Menschen bei wie alle Kabarettisten zusammen zu deren Unterhaltung.

          Bürokratie ist schneller als der Markt

          Das rührt aus dem komplexen Anspruch der Bürger auf Freiheit und Sicherheit im weitesten Sinne zugleich her. Diesen Anspruch kann nur die Bürokratie erfüllen. Sie gleicht die Langsamkeit der sonstigen Regulative aus, zum einen des Marktes und zum anderen der Gesetzgebung. Als Beleg mag das Schreckgespenst aller braven Hausfrauen dienen: ein sogenannter Lebensmittelskandal. Irgendwo ist verdorbenes Fleisch oder schadstoffbelastetes Gemüse aufgetaucht, Arztpraxen und Krankenhäuser melden auffallend gehäufte Erkrankungen mutmaßlich ähnlichen Ursprungs. Der Markt ist unfähig, darauf angemessen zu reagieren. Er hat nur die Möglichkeit, unter dem Druck der Erzeuger die einschlägige Warenkategorie so lange weiter zu liefern, bis die verunsicherten Käufer ihre Nachfrage einstellen.

          Oder es kommt zu einer hysterischen und ausufernden Verweigerung des Kaufs verdächtiger Erzeugnisse, ohne dass der Markt selbst die Ausbreitung der Erkrankungen gezielt verhindern oder die Unterscheidung der belasteten Produkte von den unbelasteten glaubwürdig vornehmen könnte. Auch die Gesetzgebung wäre nicht auf Anhieb in der Lage, Schadstoffbelastungen einzugrenzen und neu vermutete Schadstoffe zu verbieten. Alle Beteiligten - Erzeuger, Verbraucher, Gesetzgeber - sind auf das Eingreifen der Bürokratie angewiesen, deren Erfahrungen und Durchsetzungsfähigkeiten.

          Unvoreingenommen und unbefangen

          Der heutige Stand an Lebensqualität - dazu gehören so grundlegende Dinge wie die Sauberkeit des Trinkwassers, die Sicherheit der Lebensmittel, die Verlässlichkeit technischer Geräte, die Berechenbarkeit von öffentlicher Verwaltung - ist im Kern zwei Einrichtungen zu verdanken: der Wissenschaft, der der Nachweis gelungen ist und immer wieder von neuem gelingt, was „gesund“ und was „gesundheitsgefährdend“ oder gar „schädlich“ ist, und eben der Bürokratie, die viele dieser Erkenntnisse in den Alltag hineinbringt und ihre Einhaltung durchsetzt und überprüft, und zwar, wenn alles seinen vorgesehenen Gang geht und seine Richtigkeit hat, mit geradezu wissenschaftlicher Exaktheit.

          Denn eine grundlegende Eigenschaft der Bürokratie ist die Kombination von Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit gegenüber jedermann, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit im Fall gerichtlicher Klärung. Viele Anwürfe gegen die Bürokratie fußen bei näherer Prüfung auf dem Willen der Kritiker, gegenüber ihren Mitbürgern Vorteile zu wahren oder zu erhalten, die sie ihren Nachbarn nicht nachsehen würden oder deren allgemeines Ausschöpfen etwa die Luftverschmutzung oder die Unfallgefahr steigern würde.

          Wer Freiräume vor allem für sich selber reklamiert, nimmt sich die Freiheit, die bürokratische Überwachung von Gewerbebetrieben zu beklagen und zugleich die striktere Überwachung der Hygienevorschriften in Gaststätten zu fordern.

          Die Naturkatastrophen einmal beiseitegelassen, haben viele Katastrophen des technisch-wirtschaftlichen Lebens - von Lebensmittelskandalen bis zu geborstenen Schutzwällen - ihre Ursache in mangelhafter Überwachung und in wirklich „unbürokratischer“ Handhabung der Sicherheitsvorschriften. Schwächen wir die Bürokratie, so kann die bisher erreichte Lebensqualität nicht für jedermann erhalten werden, schon gar nicht kann sie ohne gezielten Einsatz der Bürokratie gesteigert werden.

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