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Bürgermeisterkandidat in Bayern : Politik ohne Hose

Tobias Kalbitzer alias Karl-Heinz Rumgedisse hat in Schongau Großes vor Bild: dpa

Im bayerischen Schongau hat ein Parteiloser gute Chancen, Bürgermeister zu werden. Es begann mit einem Scherz.

          3 Min.

          Es ist schwer, jemandem etwas über Karl-Heinz Rumgedisse zu erzählen, der nichts von ihm weiß. Rumgedisse ist ein großer Politiker. Der SPD-Gegenkandidat ist jedenfalls weniger groß als Rumgedisse, und der CSU-Mann im Vergleich zu Rumgedisse geradezu eine Null. Eigentlich sind alle anderen Leute Rumgedisse gegenüber erfolglos. Nur im Vergleich zu Franz Josef Strauß, der in Schongau seine politische Laufbahn als Landrat begann, ist Rumgedisse bedeutungslos. Noch. Rumgedisse hat in Schongau Großes vor. Er will Bürgermeister der oberbayerischen Kleinstadt werden. Und seine Chancen stehen gut.

          Jochen Stahnke
          Politischer Korrespondent in Berlin.

          Am kommenden Sonntag tritt der Parteilose in der Stichwahl um das Bürgermeisteramt  gegen den SPD-Kandidaten Falk Sluytermann an. Die unabhängige Wählervereinigung „Karl-Heinz Rumgedisse“ erzielte im ersten Wahlgang 28,8 Prozent der Stimmen. Den CSU-Kandidaten ließ Rumgedisse damit bereits deutlich hinter sich. „Erst nach der Wahl nahmen mich die Parteien ernst“, sagt er. Im Stadtrat sitzt er ohnehin schon. Bei der Kommunalwahl vor zwei Wochen erhielt er von etwa 9000 Wahlberechtigten 5656 Stimmen. So viele, wie kein Stadtrat je zuvor in Schongau erhielt.

          „Bürgermeister ohne Hose“

          Seitdem ist Rumgedisse wieder der, der er vorher war: Tobias Kalbitzer, 27, von Beruf Heilerziehungspfleger. In der Freizeit Fußballer, was auch die Ableitung seines Spitznamens erklärt. Kalbitzer arbeitet mit verhaltensauffälligen Jugendlichen und Suchtkranken. Mit einer Schnapsidee begann alles.

          Beim Fasching vor einem Jahr zog er als „Bürgermeister ohne Hose“ durch Schongau. Im Internet war Kalbitzer wenig später als Karl-Heinz Rumgedisse zu sehen – im Sakko, ohne Hose. In karierten Boxershorts stand er vor der Kamera. Auf Facebook, dem sogenannten sozialen Medium, verkündete er „die Abschaffung des gesellschaftlichen Zwangs der Hose“. Dann nahm an einem „social beer game“ teil, dessen Bewandtnis es ist, ein Bier in einem Zug auszutrinken, möglichst schnell, möglichst beobachtet. Kalbitzer trank schnell. Die Bürgermeisterkandidaten von CSU, SPD und Freien Wählern forderte er per Video auf, es ihm nachzutun. Sie gingen nicht darauf ein. Dafür aber meldeten sich übers Internet Hunderte Unterstützer. Seitdem nehme er die Sache ernst, sagt Kalbitzer. Mit drei Freunden sei er ins Rathaus gegangen, um sich nach den Formalitäten für eine Kandidatur zu erkundigen. Es ging alles sehr schnell. Die Wählergruppe war gegründet.

          Zwischen 500 und 800 Euro habe er aus eigener Tasche in seinen Wahlkampf gesteckt, sagt Kalbitzer, 5000 Flugblätter verteilt. Es könnte sich auszahlen. Das Amt des Ersten Bürgermeisters ist eine lukrative Vollzeitstelle, sechs Jahre dauert die Amtszeit. Der Stellvertreter und die anderen Stadträte arbeiten ehrenamtlich. Aber um Geld gehe es ihm nicht, sagt Kalbitzer. „Ich bin hier verwurzelt, nie weggekommen – ich liebe Schongau.“ Er hat die Eigenart, sehr schnell zu sprechen.

          „Ach, der Herr Kalbitzer“

          Kalbitzer sagt, Schongau sei verschlafen und langweilig, von einem bürgerfernen Stadtrat bloß verwaltet, nicht regiert. Der Skatepark etwa musste unersetzt einem Supermarktparkplatz weichen, die Umkleiden der Sporthallen seien schimmelig und das Wahrzeichen Schongaus, die jahrhundertealte Stadtmauer, einsturzgefährdet: Seit 2001 ist die Standsicherheit offiziell nicht mehr gegeben. Passiert ist seitdem kaum etwas. Zudem kommen, das sagt auch der sozialdemokratische Gegenkandidat, eher wenige Touristen in die Stadt am Lech. Kalbitzer sagt: „Schongau muss sich einfach besser präsentieren.“ Ein detaillierteres Wahlprogramm hat er nicht. Dafür lange Rastalocken, was wohl einen Teil seines Erfolgs ausmacht. „Was ich anbiete, ist Offenheit“, sagt Kalbitzer. Damit keine Zweifel aufkommen: Cannabis wolle er jedenfalls nicht legalisieren.

          „Ach, der Herr Kalbitzer“, seufzt Gegenkandidat Falk Sluyterman. „Was für Verwaltungserfahrung hat der eigentlich?“ Der Sozialdemokrat Sluyterman ist verwaltungserfahrener Volljurist. Ein eingefleischter CSUler habe ihm gerade zerknirscht mitgeteilt, sein Kreuz erstmals bei den Sozen machen zu wollen, sagt Sluytermann. Bei aller Kritik regiere die SPD die Stadt doch recht ordentlich. Eine Arbeitslosenquote von drei Prozent spreche schließlich für sich.

          Kalbitzer sagt: „Statistiken und Gesetze sind das eine, aber was ist mit den Gefühlen der Leute?“ Danach müsse man sich als Politiker doch richten. Er wolle deshalb nichts versprechen, was nicht zu halten sei. Aber das Patt und die permanenten Fraktionskriege zwischen den Parteien im Stadtrat wolle er beenden, um die schöne, aber seit 18 Jahren SPD-regierte Stadt wieder aufzuwecken. Seine Stärke sei das Moderieren, sagt Kalbitzer. Nur die Sache mit dem Bier habe er bereut.

          Er sagt, dann und wann werde er auf offener Straße beschimpft. Der Kalbitzer mache die Stadt lächerlich und ziehe die gesamte Politik in den Dreck. „Ich antworte dann: Demokratie ist für alle da.“ In Bayern gilt das zumindest für die Kommunalwahlen, wo sich mancher manchmal als ernsthafter Gegenspieler der CSU fühlen darf.

          Am Wahltag jedenfalls will Kalbitzer Anzug tragen - mit Hose: „Jeder kann sich verändern, das ist meine Botschaft.“ Die CSU verzichtet auf eine Wahlempfehlung.

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