: Leserbriefe vom 3. August 2022
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Ein Mann steht auf den Trümmern eines Wohnhauses, dass durch Beschuss des russischen Militärs zerstört wurde. Bild: dpa
Krieg in der Ukraine +++ Beitrag von Martin Schulze Wessel +++ Transnistrien
Der Mainstream nimmt den Krieg hin
Da tobt ein Krieg im Osten Europas mit Zehntausenden Toten, Verletzten und Verstümmelten. Frauen werden zu Witwen. Kinder zu Waisen. Millionen müssen fliehen. Große Teile der Ukraine werden verwüstet und zerstört. Viele Opfer sind zu beklagen, auch unter der Zivilbevölkerung. Sie leidet unter dem Horror der Raketenangriffe und unter all den anderen fürchterlichen Begleiterscheinungen des Krieges, eines Krieges, der noch Monate, noch Jahre dauern kann, der vielleicht eskalieren wird! Es ist völlig unwahrscheinlich, dass die Russen sich besiegen lassen, sich zurückziehen aus den eroberten Gebieten. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass nach Beendigung des Krieges für die einzelnen Gebiete der Ukraine und für die ganze Ukraine (falls es sie dann noch gibt) Regelungen getroffen werden, die man ohne Krieg schon längst vorher hätte treffen können. Und dann sind die ukrainischen Soldaten einen sinnlosen Tod gestorben, dann waren sie lediglich Menschenmaterial, das man glaubte, opfern zu dürfen, opfern zu müssen. Aber auch die toten und verletzten russischen Soldaten sind bedauernswerte Opfer. Der Westen ist stolz auf seine Humanität und seine „Werte“. Gehört aber zu den höchsten Zielen einer humanen Gesinnung nicht der Schutz der Menschen vor sinnlosem Tod, sinnlosem Leid und sinnloser Zerstörung? Müssten unsere Politiker nicht alles, alles tun, um zu erreichen, dass das Sterben in der Ukraine unverzüglich beendet wird? Müssten sie nicht jeden Tag lautstark, eindringlich, hartnäckig einen sofortigen Waffenstillstand fordern, Verhandlungen, Bereitschaft zu Kompromisslösungen, auch zu gewissen Zugeständnissen an Russland? Hat der Schutz der Menschen, ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit nicht allerhöchste Priorität? Es ist erschreckend, zu erleben, mit welch schockierender Selbstverständlichkeit und Gelassenheit der mörderische Krieg vom Mainstream hingenommen wird. Setzte man nicht, um Menschenleben zu retten, in der Covid-Pandemie elementare Bürgerrechte außer Kraft? Und jetzt? Sind Menschenleben plötzlich nichts mehr wert? Darf ihre Rettung nicht mehr das Handeln bestimmen? Warum lässt man einen Krieg andauern, der noch das Leben Abertausender kosten wird? Sind Waffenlieferungen, die ihn verlängern, das Gebot der Stunde oder nicht vielmehr beharrliche Bemühungen um seine sofortige Beendigung? Glaubt man allen Ernstes, Putin werde NATO- oder EU-Länder angreifen und lasse sich nicht abschrecken, wenn er Erfolge vorweisen könnte nach Friedensverhandlungen mit der Ukraine?
Leider Gottes hat sich die F.A.Z. dem blinden, nicht in die Zukunft denkenden Mainstream angeschlossen. Am 28. Juli meldet sie auf Seite 1, als ob das eine erfreuliche und gute Nachricht sei: „Ukraine soll 100 Panzerhaubitzen aus Deutschland bekommen“. Und im Artikel von Stefan Locke „Kretschmers Minderheitsmeinung“ (ebenfalls in der F.A.Z. vom 28. Juli) wird die vernünftige und moralisch gebotene Position des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer („Einfrieren“ des Kriegs, Deutschland soll vermitteln zwischen Russland und der Ukraine, Zustimmung zu dem „auch von Alice Schwarzer unterzeichneten offenen Brief“) als „Minderheitsmeinung“ eines Mannes schlechtgeredet, der „aus Prinzip immer dann einen anderen Weg“ einschlägt, „wenn gefühlt alle in eine Richtung laufen“.
Wolfgang Illauer, Neusäß-Westheim
Russland ist zum Weltrisiko geworden
Der mit „Faschismus? Genozid? Vernichtungskrieg?“ betitelte Beitrag von von Martin Schulze Wessel zur „Rückkehr der Geschichte“ in der F.A.Z vom 25. Juli gibt zu manchen Gedanken über den Einfluss und die Größe Russlands Anlass. Russland nimmt elf Prozent der Landfläche der Erde ein und verfügt über immense Rohstoff- und Nahrungsmittelreserven. Zu seiner Ausdehnung und zu seinem Schutz diente von Anfang an ein starkes Militär. Es wurde seit jeher ohne Rücksicht unter Ausbeutung seiner Bodenschätze und mit der Einziehung seiner jungen Männer aufgebaut. Ausgerechnet dieses Land fällt wieder einmal unter die Gewalt skrupelloser Führer. Wie lange kann die Welt ihre Bedrohung durch diese Leute zulassen?
Die Verantwortungslosigkeit der russischen Führungen für den Frieden, für die Erhaltung der Umwelt und für die Förderung des Wohlergehens der eigenen Bevölkerung hat Tradition. Die Verfolgung der Krimtataren, die von Stalin inszenierte Hungerkatastrophe der Dreißigerjahre in der Ukraine, das Gulag-System, das Verschweigen des Atomreaktorunfalls in Tschernobyl, die Zerstörung Grosnys, der Einsatz in Georgien und Syrien – immer geht es um Gewalt, Desinformation und Destruktion. Noch nie reichten jedoch die Auswirkungen der Auseinandersetzungen durch die vom Ukrainekrieg ausgelöste Nahrungsmittelkrise so weit wie heute und treffen auf eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen. Russland ist zum Weltrisiko geworden und in der heutigen Verfassung eigentlich „too big to last“, weil sich offensichtlich keine inneren Heilungskräfte bilden können. China mit seiner zehnmal so großen Bevölkerung kommt in dieser Lage eine entscheidende Bedeutung zu. Noch beobachtet die Führung dort die Entwicklung Russlands und nimmt eine mehr oder weniger neutrale Stellung im Ukrainekrieg ein. Wie in einem Labor kann China die Fähigkeiten der russischen Kriegsführung und seiner Waffen, die politischen Reaktionen und das Waffenarsenal des Westens, die Wirkung der Sanktionen, den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, die Abhängigkeit Afrikas von Nahrungsmitteln und die der Welt von Rohstoffen verfolgen. Alles ist für die strategischen Planungen des Reichs der Mitte, gerade im Hinblick auf Taiwan, von Nutzen. Solange die Politik Russlands keine Nachteile für China mit sich bringt und China auf friedlichem Wege eine „leise Invasion“ durch Immobilienkäufe und Handel in Russisch-Fernost praktizieren kann, wird sich im Verhältnis beider Staaten sicherlich nicht viel ändern. Interessant wird es erst, wenn die Begehrlichkeit Chinas nach Rohstoffen an ihre Grenzen stößt. An der großen Pazifikinsel Sachalin in Russisch-Fernost, dem Fundort der bedeutendsten Erdöl- und Gasvorkommen Russlands, könnte sich das Schicksal entscheiden. Denn Sachalin war unter der chinesischen Qing-Dynastie Teil der Äußeren Mandschurei. Erst 1858/1860 in den Verträgen von Aigun und Peking wurde den Chinesen das riesige Gebiet nach der Niederlage in den Opiumkriegen entrissen. Diese Verträge gehören zu den später so genannten Ungleichen Verträgen, die von China auch im Falle der Forderung nach Rückgabe Hongkongs angefochten wurden. So erscheint es nicht abwegig, dass eines Tages China auch gegenüber Russland ähnliche, historisch belegte Forderungen auf die Äußere Mandschurei vorbringen könnte, um seine Sehnsucht nach einem Zugang zum Pazifik und zu eigenen Rohstoffquellen zu stillen. Diese Vorstellung müsste Schweißperlen auf Putins Stirn treiben, entspräche die Argumentation doch seiner eigenen im Fall der Krim und der Ukraine.
Ist es nicht an der Zeit, dass der Westen auch einmal die Bestandsrisiken Russlands ins Spiel brächte und an die Gefahr einer „Rückkehr der Geschichte“ erinnerte? Sven Tern, Ahrensburg
Wie Transnistrien entstand
Am 29. Juli hat die F.A.Z. den sehr lesenswerten Beitrag „Schutzmacht Russland“ von Michael Martens zum Thema Transnistrien gebracht. Vielleicht sollte auch erwähnt werden, dass sowohl die Entstehung des Gebiets als auch die Namensgebung lange vor 1992 erfolgten. Die heutige Republik Moldau – in etwas anderen Grenzen – war seit über 100 Jahren Teil Russlands, als im Jahr 1920 rumänische Truppen das Land am rechten Dnjestr-Ufer eroberten. Um den Anspruch der Sowjetunion auf die Moldau wachzuhalten, formte Stalin 1924 recht willkürlich aus einem schmalen Gebietsstreifen der Ukraine am linken Dnjestr-Ufer die Autonome Sowjetrepublik Moldau innerhalb der Sowjetrepublik Ukraine. Das heutige Pridnjestrowien (Land diesseits des Dnjestr), wie es sich selbst nennt, war so entstanden. 1940 besetzte wiederum die Sowjetunion die Moldau samt jenem ukrainischen Streifen. Die Sowjetrepublik Moldau wurde 1941 mithilfe Hitlerdeutschlands von Rumänien zurückerobert. Weiter östlich davon, in der westlichen Ukraine mit Odessa, errichtete Rumänien ein brutales Schreckensregime, das besonders unter der jüdischen Bevölkerung unzählige Opfer forderte; dieses Gebiet wurde von den Rumänen Transnistrien (Land jenseits des Dnjestr) genannt. Den unseligen Namen übertrug die Außenwelt 1992 auf das Rebellenterritorium am linken Dnjestr-Ufer.
Von 1944 bis 1991 war die Moldau wieder Teil der Sowjetunion. Bei deren Zerfall wurde die Republik Moldau, einschließlich des ukrainischen Gebietsstreifens, ein selbständiger Staat. Otto Freiherr Grote, Berlin