WM in Brasilien : Wo sind all die Demonstranten hin?
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Ende Juni protestierten in Belo Horizonte noch einige Demonstranten. Die befürchteten Massenproteste blieben indes aus. Bild: dpa
Vor einem Jahr demonstrierten Hunderttausende Brasilianer gegen ihre korrupten Eliten und gegen die Fifa. Für die Weltmeisterschaft wurden Massenproteste und Straßenschlachten vorhergesagt. Nichts davon trat ein. Wie ist das möglich?
Gut drei Wochen sind seit dem Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft vergangen – und mit dem Einzug der Seleção ins Halbfinale gegen Deutschland scheint nicht nur der Stolz der Brasilianer auf ihre Fußballer gewachsen zu sein. Bei einer Umfrage der Zeitung „Folha de São Paulo“ gaben nun 60 Prozent der Befragten an, dass sie stolz seien auf die Organisation des Turniers in ihrem Land. 65 Prozent sagten, dass sie sich für die Proteste während der Weltmeisterschaft schämten.
Genau ein Jahr ist vergangen, seit Hunderttausende Brasilianer durch die Straßen zogen und gemeinsam gegen ihre korrupten Eliten aufbegehrten. „O gigante acordou! Der Gigant ist aufgewacht!“, schrien sie damals wütend. Und: „Copa pra quem? WM für wen?“ Im Land wurde gerade der Confederations Cup ausgetragen, die Generalprobe, und so wurden auch für die Weltmeisterschaft dunkle Szenarien gemalt: Massenproteste, Straßenschlachten, Bürgerkrieg.
Stattdessen bleiben die meisten Brasilianer nun zuhause. Zusammen mit Freunden schauen sie die Spiele der Seleção. Sie bejubeln jeden Sieg, sie trauern um den verletzten Neymar. Man könnte meinen, der Fußball habe den Giganten vorm Fernseher in einen glückseligen Opiumschlaf versetzt.
Doch seine Kraft hatte der Gigant schon lange vor dem ersten Tor Brasiliens verloren. Mit einem Knall hatte sich im Juni 2013 eine lang aufgestaute Unzufriedenheit freigesetzt. Aus Protesten gegen die Erhöhung von Buspreisen wurden Massendemonstrationen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fanden viele Brasilianer zusammen, um ihre Rechte als Bürger einzufordern: bessere Schulen, bessere Krankenhäuser, besseren Nahverkehr; ein Ende von Korruption und Polizeigewalt.
Die erste Wut ist verpufft
Die Regierenden wurden von dem Aufruhr völlig unvorbereitet getroffen. Sie nahmen die Preiserhöhungen im Nahverkehr zurück, eine umstrittene Verfassungsänderung ebenso, und Präsidentin Dilma Rousseff verkündete einen Fünf-Punkte-Plan (von dem bis heute ein einziger Punkt umgesetzt wurde, nämlich die Verbesserung der medizinischen Versorgung durch Ärzte aus Kuba). Doch mit den kleinen Siegen verlor der Gigant auch an Kraft. Die erste Wut war verpufft.
Die Proteste flammten zwar immer wieder auf, denn die allgemeine Unzufriedenheit schwelt weiter. Doch in den Monaten und Wochen vor der WM waren es vor allem die etablierten sozialen Bewegungen, die größere Gruppen von Demonstranten mobilisieren konnten – mit ihren konkreten Forderungen. In São Paulo dominierte die Obdachlosenbewegung das Bild. Nach Protesten bis kurz vor dem Eröffnungsspiel ging die Regierung auf deren Forderung nach Sozialwohnungen auf einem besetzten Gelände in der Nähe des WM-Stadions Itaquerão ein. In vielen Städten versuchten auch Lehrer, Busfahrer, U-Bahn-Fahrer, Polizisten und andere Berufsgruppen die anstehende WM als Druckmittel für Streiks zu nutzen.
Angst vor Gewalt
Der in sozialen Netzwerken geborene Slogan „Não vai ter Copa! Es wird keine WM geben!“, den sich viele der Gruppen auf die Banner geschrieben hatten, die seit vergangenem Juni entstanden waren, konnte nie eine große Anziehungskraft entwickeln. Er wurde auf allen möglichen Demonstrationen gerufen – denn viele Brasilianer waren und sind wütend auf die Verschwendung und die Korruption im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft. Zugleich aber wissen sie, dass die Probleme ihres Landes viel tiefer liegen. Dass Brasilien letztlich auch ohne Fifa und ohne Weltmeisterschaft nicht besser dastünde. Die Medien, zumal die internationalen, vergaben im Rausch vor dem Mega-Event allzu großzügig das Label „Anti-WM-Protest“.