Wladimir Putin : Eine unangenehme alte Geschichte
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Als Marina Salje am 21. März im Alter von 77 Jahren starb, war das den russischen Nachrichtenagenturen nur eine kurze Notiz wert. In oppositionellen Medien erschienen einige liebevolle Nachrufe auf das „Großmütterchen der russischen Demokratie“ - das war es. Aber am Mittwoch sah sich Ministerpräsident Putins Sprecher Dmitrij Peskow gezwungen, zu ihrem Erbe Stellung zu nehmen: Es geht um die unkommentierten Fotografien von 245 mit Schreibmaschine geschriebenen Dokumenten mit vielen Zahlen und amtlichen Stempeln, die Freunde Saljes eine Woche nach ihrem Tod auf ihrer Facebook-Seite hochgeladen haben.
“Nichts Neues“ sei in diesen Dokumenten, sagte Peskow. Es geht darin tatsächlich um eine alte Geschichte - eine für den mächtigsten Mann Russlands unangenehme Geschichte. Sie spielt vor 20 Jahren in Sankt Petersburg. Putin war damals in der Stadtverwaltung Chef des Komitees für Außenwirtschaft, Salje leitete im Stadtparlament den Ausschuss für Lebensmittelversorgung - ein wichtiges Amt in den Monaten nach der Auflösung der Sowjetunion, als infolge des Zerfalls staatlicher Strukturen vielerorts in Russland Lebensmittelknappheit herrschte.
Um in Millionenstädten wie Sankt Petersburg wenigstens die Grundversorgung sicherzustellen, erhielten die Stadtverwaltungen von der Regierung in Moskau Rohstoffkontingente zugeteilt, die im Ausland gegen Lebensmittel eingetauscht werden sollten. In Petersburg war für diese Geschäfte Wladimir Putin verantwortlich.
Geschäfte im Wert von etwa 100 Millionen Dollar
1992 untersuchte ein von Marina Salje geleiteter Ausschuss des Stadtparlaments das Geschäftsgebaren Putins. Er kam zu dem Schluss, Putin und sein Stellvertreter hätten ohne Vollmacht dazu Exportlizenzen an Eintagesfirmen vergeben, die gleich darauf wieder verschwunden seien, hätten diesen Firmen für die Abwicklung von Warentauschgeschäften ungewöhnlich hohe Kommissionen zugestanden; zudem seien viele der Rohstoffe im Ausland für einen Bruchteil des tatsächlichen Preises verkauft worden.
Insgesamt spürte die Kommission Geschäfte im Wert von etwa 100 Millionen Dollar auf. „Im besten Fall liegt hier Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz der Mitarbeiter und der Leitung des Außenwirtschaftskomitees vor“, heißt es im Bericht der Kommission, über den oppositionelle russische Medien immer wieder berichtet haben. „Im schlimmsten Fall handelt es sich um Spekulationen auf dem Rücken der darbenden Bevölkerung der Stadt.“
„Sie wollten Sobtschak zwingen, mich zu entlassen“
utin hat in einem zu Beginn seiner ersten Amtszeit erschienenen Interviewbuch selbst zu den Vorwürfen Stellung genommen: Tatsächlich hätten damals manche der Vertragspartner ihre Verpflichtungen nicht voll erfüllt, und sich an Gerichte zu wenden sei im Chaos jener Jahre sinnlos gewesen. Es sei nicht wirklich um seine Arbeit gegangen - vielmehr hätten einige Abgeordnete den damaligen Petersburger Bürgermeister Anatolij Sobtschak zwingen wollen, ihn zu entlassen, „weil ich ein früherer KGB-Mann“ war.
Tatsächlich forderte das Stadtparlament auf der Grundlage von Marina Saljes Bericht die Entlassung Putins und erreichte, dass das Außenwirtschaftsministerium in Moskau und Jelzins Präsidialverwaltung mit einer Prüfung von Putins Geschäften begannen. Dass die Sache damals im Sande verlief, hatte Putin dem Bürgermeister Sobtschak zu verdanken, der ihn verbissen verteidigte. Putin revanchierte sich später: Als gegen Sobtschak nach dessen Abwahl 1996 schwere Korruptionsvorwürfe erhoben wurden und er schon einflussreiche Posten in Moskau innehatte, hielt er standhaft zu ihm.
„Gegen die Gauner und Diebe
Vor Putins erster Wahl zum Präsidenten im Jahr 2000 warnte Marina Salje vor ihm - nach seinem Sieg zog sie sich plötzlich in ein kleines Dorf zurück und stellte ihr politisches Engagement ein. Es heißt, sie sei bedroht worden. Erst in den vergangenen beiden Jahren begann sie wieder, sich öffentlich zu äußern - und der Salje-Bericht machte im Internet, dem Spielplatz der russischen Gegenöffentlichkeit, wieder Karriere.
Die am Mittwochabend bei Facebook veröffentlichten Dokumente enthalten die Korrespondenz ihres Untersuchungsausschusses. Die Sache ist für Putin nicht nur unangenehm, weil sie ihn selbst betrifft: Seine engsten Weggefährten - einschließlich des noch amtierenden Präsidenten Dmitrij Medwedjew - arbeiteten Anfang der neunziger Jahre zusammen mit ihm unter Sobtschak in der Petersburger Stadtverwaltung. Die alte Geschichte könnte der Oppositionslosung „Gegen die Gauner und Diebe“ neue Nahrung geben.