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Urteile gegen Krimtataren : „Himmelschreiende Gesetzlosigkeit“

Die russische Fahne an Moskaus Botschaft in Kiew im Dezember 2018 Bild: EPA

Für Krimtataren ist das Risiko russischer Unrechtsurteile besonders hoch. Wieder sind drei Männer zu mehr als zehn Jahren Haft verurteilt worden. Menschenrechtler kritisieren einen politisch motivierten Prozess.

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          Russische Unrechtsurteile können jeden treffen. Besonders groß ist das Risiko für Krimtataren. Auf der 2014 von Russland annektierten ukrainischen Krim stellt die muslimische Volksgruppe etwa zwölf Prozent der 2,3 Millionen Bewohner. Dass die allermeisten Krimtataren Russlands Vorgehen ablehnen, liegt auch an ihrer Geschichte: Stalin ließ die Krimtataren 1944 nach Zentralasien deportieren, in den Güterzügen kamen Zehntausende um. Erst in der Spätphase der Sowjetunion durften die Krimtataren in ihre Heimat zurückkehren. Dort profilieren sich nun Agenten aus Russlands Geheimdienst FSB damit, Leute zu verfolgen, die proukrainisch eingestellt sind oder sein könnten.

          Friedrich Schmidt
          Politischer Korrespondent für Russland und die GUS in Moskau.

          Viele Verhaftete werden völkerrechtswidrig nach Russland verschleppt, zum Prozess vor einem Militärgericht im südwestlichen Rostow am Don. Etwa wegen angeblicher Mitgliedschaft in der islamistischen Gruppe Hizb ut Tachrir („Partei der Befreiung“); in der Ukraine erlaubt, ist sie in Russland als „terroristisch“ verboten. Laut der Menschenrechtsschützer von Memorial werden allein unter Hizb ut Tachrir-Vorwürfen derzeit mindestens 79 Krim-Bewohner politisch verfolgt. Fast alle sind Krimtataren wie die drei vor eineinhalb Jahren verhafteten Männer, gegen die am Dienstag in Rostow das jüngste Repressionsurteil erging: Enwer Omerow erhielt als „Organisator“ 18 Jahre Haft, sein Sohn Risa Omerow 13, Ajder Dschepparow 17 Jahre Haft. Sie hätten Versammlungen abgehalten, ein Kalifat angestrebt, sich terroristisch betätigt. Es sind Standardvorwürfe, die Memorial als fabriziert und politisch motiviert einstuft.

          Entschuldigung des FSB-Mannes

          Schon vor der Corona-Pandemie fanden die Machthaber immer Gründe, die Öffentlichkeit von den Gerichtssitzungen auszuschließen. Jetzt erst recht. Über Anwälte werden Details bekannt. Wie das Schlusswort Enwer Omerows vom Montag. Der 59 Jahre alte Mann mit grauem Bart sagte darin, ein FSB-Mann, der ihn noch zu Beginn der Ermittlungen als Terroristen beschimpft habe, habe ihn später um Verzeihung gebeten: „Sie haben keinerlei Versammlungen abgehalten und sind überhaupt kein Organisator.“ Der Agent habe geäußert, dass es „schön wäre, wenn die Ukraine Sie austauscht“.

          Doch läuft der Prozess erst einmal, ist der Schuldspruch programmiert und der Austausch gegen (pro)russische Donbass-Kämpfer in ukrainischer Hand die wichtigste Hoffnung der Repressionsopfer; Rechtsmittel, wie sie nun alle Verurteilten ankündigten, ändern wenig. Omerow wies alle Vorwürfe zurück. Die Verfolgung sei „ein Zeichen von Schwäche und himmelschreiender Gesetzlosigkeit“.

          Die internationale Aufmerksamkeit für das Leid der Krimtataren ist gering, deren Solidarität untereinander dagegen groß. Gegen Mitglieder ihrer Aktionsgruppe „Krim-Solidarität“ gehen die Machthaber vor, auch gegen Krimtataren, die in sozialen Netzwerken über die Repression berichten. In der Nacht vor der Urteilsverkündung stoppten Polizisten Autos mit Krimtataren, die über die 2018 eröffnete Autobrücke von der Krim in Richtung Rostow wollten: zur Mahnwache vor dem Gericht, wie es Enwer Omerow oft für andere Angeklagte vorgemacht hatte.

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