Erdogan und die Wahl : Die türkische Kakophonie
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Am Tag nach der Begegnung mit Frau B. treffen wir einen Kollegen von ihr, Herrn D. Auch er will gern sprechen, aber er hat eine Familie zu versorgen und ein Haus abzubezahlen, weshalb auch er es sich nicht leisten kann, mit seinem richtigen Namen in Erscheinung zu treten. Wir treffen uns in einem Café in einem Büroquartier der türkischen Hauptstadt, zwischen einer vielbefahrenen Ausfallstraße und glitzernden Hochhäusern. Herr D. wirkt eine Spur optimistischer als Frau B., auch wenn er zu Beginn des Gesprächs zunächst einige dunkle Farben aufträgt.
Das Verfassungsgericht, sagt er, sei inzwischen tatsächlich fast gänzlich unter Erdogans Kontrolle. Die Mehrheit der Richter sei von Erdogan oder dessen Vorgänger Abdullah Gül ernannt, der ebenfalls schon darauf achtete, AKP-freundliche Juristen zu installieren. Die wenigen Richter, die nicht von Erdogan ernannt wurden, werden bald die Pensionsgrenze erreichen. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass die Türkei immer noch dem Europarats angehöre und ihr Verfassungsgericht deshalb der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg unterworfen sei, sagt Herr D. Die Angst der Richter davor, aus Straßburg eine Rüge zu bekommen, hat tatsächlich schon mehrfach zu Urteilen in Ankara geführt, die nicht im Sinne Erdogans waren.
Herr D. glaubt auch nicht, dass Erdogan es sich auf Dauer leisten könnte, gegen ein Parlament anzuregieren, in dem er keine Mehrheit hat. Zum Beispiel dürfe der Präsident keine Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst ohne Billigung der Abgeordneten durchsetzen. „Und der Präsident kann ein vom Parlament erlassenes Gesetz nicht ändern oder ergänzen. Das Gesetz hat Vorrang“, wiederholt er den Standpunkt seiner Kollegin B.
Anders als die Notstandsdekrete seien die regulären Erlasse auch einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterworfen. Ein Dekret, das beispielsweise die Meinungsfreiheit oder die Pressefreiheit beschneide, könne vom Verfassungsgericht verworfen werden. Aber ist das von den größtenteils durch Erdogan und Gül ernannten Richtern zu erwarten? Das ist im besten Fall eine offene Frage.
„Das ist mir zu pessimistisch gedacht“
Hinzu kommt, dass eine rechnerische Mehrheit für die Opposition im neuen Parlament keineswegs unmittelbar eine politische Mehrheit bedeuten muss. Denn die türkische Opposition ist heterogen, es gibt dort linke, alevitische Kurden ebenso wie nationalistische, sunnitische Türken. Es ist auch keineswegs gesagt, dass die oppositionelle Vorwahlkoalition um die CHP auch im Parlament noch ein Bündnis bilden wird.
Wenn die AKP eine Partnerin zum Regieren sucht, wenn also das Vaterland und die reich gedeckten Tafeln der Macht rufen, muss dieser Ruf keineswegs ungehört verhallen. „Das ist mir zu pessimistisch gedacht“, kommentiert Herr D. eine solche Einschätzung. Man habe ihm zwar die alte Verfassung genommen hat, nicht aber die Hoffnung, dass der 24. Juni nicht aller Tage Abend sein wird.