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Migration : Exodus aus der Hoffnungslosigkeit

Am liebsten in die Schweiz: Billard in einem Jugendclub im kosovarischen Mitrovica Bild: Matt Lutton/Invision/laif

Hunderttausende junge Menschen in Südosteuropa wollen auswandern. Egal wie – Hauptsache, weg. Warum ist das so? Eine Studie liefert wichtige Erklärungen.

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          Sollte ein junger Mensch einer Partei beitreten? Klar doch – um einen Job zu bekommen. Das sagt Jeta, 26 Jahre alt, aus der Kleinstadt Gjakova im Kosovo. Viele junge Kosovaren seien überzeugt davon, nur wer Parteimitglied sei – in einer Partei an der Macht, versteht sich – könne auf einen Arbeitsplatz hoffen: „In Gjakova werden alle nur Mitglied in politischen Parteien, um einen Job zu bekommen.“

          Michael Martens
          Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.

          Lohnt es, in die Politik zu gehen? Auf jeden Fall, sagt ein 17 Jahre alter Schüler aus Sofia: „Ich denke, Politik ist der Ort, an dem leichtes Geld gemacht werden kann. Ich würde hier sehr gern in die Politik gehen. Es hört sich wie ein sehr guter Job an. Man kann sehen, welche Gehälter Politiker bekommen, wie sie Urlaub machen, was für tolle Anzüge und Autos sie haben.“ Ist Ehrlichkeit gut für die Karriere? Bestimmt nicht, sagt ein 22 Jahre alter Student der Ökonomie aus Sofia: „In Bulgarien kann man durch harte Arbeit allein leider nichts erreichen. Man muss unehrlich sein, um im Leben voranzukommen.“

          Drei Antworten aus Südosteuropa – Antworten auf Fragen zu Politik, Werten und Lebensentwürfen, die im Zuge einer mehrjährigen Umfrage zwischen 2011 und 2014 fast 10.000 jungen Menschen in acht Staaten Südosteuropas gestellt wurden. Die Fragesteller des von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Maribor (Marburg, Slowenien) koordinierten Projekts haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu ihren Ängsten, Hoffnungen und Plänen befragt. Eine zentrale Schlussfolgerung der aufwendigen Erhebung lautet: „Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse und Armut sind in ganz Südosteuropa die drängendsten Sorgen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, viele wollen daher emigrieren. Der anhaltende Braindrain stellt für die Entwicklung der Staaten der Region die größte Bedrohung dar.“

          Den traurigen Spitzenplatz nimmt Albanien ein. Zwei Drittel der Jugendlichen und jungen Menschen in Albanien geben an, ihr Land „sehr wahrscheinlich“ oder „ziemlich wahrscheinlich“ verlassen zu wollen. Auch im Kosovo und in Mazedonien will mehr als die Hälfte der jungen Bürger vor allem eines: weg. In Bosnien-Hercegovina hegt immerhin fast jeder Zweite Emigrationspläne.

          Wie haben sie den Glauben an ihre Heimatländer verloren?

          Selbst in den 2007 der EU beigetretenen Balkanstaaten Bulgarien (42,5 Prozent Auswanderungswillige) und Rumänien (39,9 Prozent) gibt ein hoher Anteil der jungen Staatsbürger an, eine Ausreise auf Dauer zu planen. Woran glauben diese jungen Menschen – und warum haben sie den Glauben daran verloren, die Bedingungen in ihren Heimatländern könnten sich noch zu ihren Lebzeiten so verbessern, dass eine Auswanderung nicht nötig ist?

          Videografik : Ein- und Auswanderung erklärt

          Wer den derzeitigen Strom von balkanischen Asylantragstellern nach Nordwesteuropa verstehen und wissen will, warum auch viele Menschen aus südosteuropäischen EU-Staaten ihre Herkunftsländer verlassen, wird in den acht zum Teil umfassenden Studien aus Albanien, Bosnien-Hercegovina, Bulgarien, Kroatien, dem Kosovo, Mazedonien, Rumänien und Slowenien fündig werden. Es ist freilich eine ernüchternde Lektüre.

          „Ein großer Teil der Heranwachsenden (...) ist wenig tolerant und zeigt nur eine geringe Bereitschaft, sich politisch zu engagieren“, heißt es in der Auswertung der Befragungen. Die Jugend in Südosteuropa sei „nur bedingt in der Lage, soziale oder kulturelle Unterschiede zu akzeptieren“, lautet die butterweiche Schlussfolgerung, bevor etwas deutlicher festgestellt wird, die Untersuchungsergebnisse stellten „die verbreitete Vermutung in Frage, Heranwachsende seien progressiver und toleranter eingestellt als ihre Eltern und Großeltern.“ Tatsächlich seien für junge Menschen in Südosteuropa „Fragen der Ehre“ nämlich wichtiger „als die Werte der Toleranz und der Kooperation“.

          Aufschlussreich ist die Frage danach, wen junge Menschen im Kosovo als Nachbarn zu akzeptieren bereit wären. Zöge nebenan eine Familie aus den Vereinigten Staaten oder aus Westeuropa ein, hätte die große Mehrheit der jungen Albaner im Kosovo kein Problem damit. Bei Roma sieht es schon anders aus, und ein schwules Pärchen möchte fast niemand in der Nachbarschaft haben. Die meisten jungen Serben im Kosovo haben zwar nichts gegen Zigeuner, aber neben Amerikanern oder gar Schwulen wollen sie keinesfalls leben müssen.

          Bild: F.A.Z.

          Diese Antworten sind auch deshalb bemerkenswert, weil sie auf eine wichtige Diskrepanz hinweisen: In Deutschland sind es außer der Wirtschaft, die auf billige und willige Arbeitskräfte hofft, vor allem Grüne, Linke und Teile der SPD, die einer Einwanderung aus politischen Gründen das Wort reden. Doch eine Mehrheit der jungen Zuwanderer vom Balkan lehnt die Werte, die im gutgrünbürgerlich-liberalen Milieu von Berlin-Mitte oder im Sahra-Wagenknecht-Paralleluniversum für multiethnisch-selbstverständlich gehalten werden, entschieden ab.

          Besonders ergiebig ist ein Vergleich der Umfrageergebnisse in Bulgarien und dem Kosovo. Das Kosovo ist, von den Republiken der ehemaligen Sowjetunion abgesehen, der ärmste Staat Europas, Bulgarien das ärmste Mitgliedsland der EU. Hat die Aufnahme Bulgariens in die EU 2007 die Einstellung junger Menschen zur Auswanderung grundsätzlich geändert? Die Antwort lautet: Jein. Zwischen 1997 und 2002 gaben regelmäßig mehr als 85 Prozent der jungen Bulgaren an, sich mit dem Gedanken an Auswanderung zu tragen. Nur etwa 14 Prozent sagten, sie hätten dies keinesfalls vor.

          Seit Bulgarien der EU angehört, hat sich viel verändert

          Im Jahr 2014 lag der Anteil derer, die auf jeden Fall in Bulgarien bleiben wollen, dagegen schon bei 47 Prozent. Auch andere Umstände haben sich geändert, seit Bulgarien der EU angehört. Im Jahr 1997 gaben noch 46 Prozent der Auswanderungswilligen an, „Verbrechen und soziale Unsicherheit“ seien die Gründe dafür, das Land verlassen zu wollen. Fünf Jahre später waren es 34, im vergangenen Jahr noch 27 Prozent, die so antworteten.

          Inzwischen sind es weniger die Missstände Bulgariens als die attraktiven Angebote anderer Länder, die Auswanderungsgedanken Vorschub leisten. Doch dieser Trend kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sieben Jahre nach dem EU-Beitritt Bulgariens noch immer mehr als die Hälfte der jungen Bulgaren den Wunsch äußert, dem eigenen Land den Rücken zu kehren. Warum ist das so? Außer wirtschaftlichen Gründen spielt das mangelnde Vertrauen in die eigene Demokratie eine große Rolle. Die meisten jungen Bulgaren bringen sowohl der Legislative als auch der Exekutive sowie der Justiz ihres Landes „ein völliges Misstrauen“, bestenfalls aber „sehr wenig Vertrauen“ entgegen.

          Bild: F.A.Z.

          „Bei einer Mehrheit der bulgarischen Jugendlichen besteht ein völliger Mangel an Vertrauen in zwei zentrale Institutionen: das Parlament und die Regierung“, lautet eine Schlussfolgerung der Studie, die in die beunruhigende Feststellung mündet, dass in der parlamentarischen Republik Bulgarien ausgerechnet das Parlament die Institution ist, der junge Leute am wenigsten vertrauen. Das größte Vertrauen genießt bezeichnenderweise eine Institution mit Sitz im Ausland: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, „der den bulgarischen Staat regelmäßig verurteilt“, wie die Autoren der Studie anmerken.

          Doch es sind weiterhin auch wirtschaftliche Gründe, die junge Bulgaren in die Fremde treiben. Anders als Mitte der neunziger Jahre, als Bulgarien vor dem völligen Kollaps der staatlichen Ordnung stand, ist es heute nicht mehr die schiere Existenznot, die Bulgaren zur Auswanderung bewegt. Ein Job, der die Existenz auf niedrigem Niveau sichert, lässt sich heute vor allem in Sofia und den anderen größeren Städten relativ einfach finden. Die Jugendarbeitslosigkeit in Bulgarien lag laut Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat 2013 bei knapp 22 Prozent – das ist verglichen mit Griechenland oder Spanien kein katastrophaler Wert. Ein genauerer Blick auf die ethnische Zugehörigkeit der arbeitslosen jungen Bulgaren lässt Schlüsse auf das Auswanderungsverhalten zu.

          Viele Roma in Bulgarien am Arbeitsmarkt chancenlos

          In Bulgarien leben laut Volkszählung von 2011 knapp 85 Prozent Bulgaren, fast neun Prozent Türken und fünf Prozent Roma, wobei deren tatsächlicher Anteil vermutlich höher ist, da sich viele Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe in Umfragen und im Alltag lieber als Türken deklarieren, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Während weniger als zehn Prozent der jungen ethnischen Bulgaren arbeitslos sind und junge bulgarische Türken mit einer Arbeitslosenrate von zwölf Prozent ebenfalls recht gut dastehen, sind von den Roma des Landes mindestens 40 Prozent ohne feste Arbeit. Auch das ist eine Erklärung dafür, warum es neben ethnischen Bulgaren, die oft bereits mit einem festen Arbeitsvertrag nach Deutschland gehen und hierzulande vollkommen unauffällig zum Wirtschaftswachstum beitragen, auch viele bulgarische Roma in den größten EU-Staat zieht.

          Viele Roma sind hier am Arbeitsmarkt genauso chancenlos wie in ihrer Heimat – aber es ist eben besser, in Deutschland keine Chance zu haben als in Bulgarien. Dort haben es Roma, wie überall in Europa, selbst dann schwerer als andere, wenn sie eine gute Ausbildung haben. Es gibt zwar in Bulgarien keine staatlich betriebene Ausgrenzung von Roma, doch in der Privatwirtschaft stoßen viele auf unsichtbare Mauern.

          Bild: F.A.Z.

          Ein junger Rom, Student in Sofia, berichtet über seine Erfahrungen bei der Jobsuche: „Du musst Verbindungen haben und eine Menge Leute kennen, Bulgaren an hohen Stellen – Direktoren, Politiker (...).“ Sich ohne Kontakte auf reguläre Weise um eine Arbeitsstelle zu bewerben, habe keine Aussicht auf Erfolg. Eine junge Romni, in einer Konditorei angestellt, gab zwar an, als Schülerin nicht ausgegrenzt worden zu sein, „aber es ist anders, wenn du Arbeit suchst. Wenn sie jemanden sehen, der etwas dunkler ist, sagen sie (bei einem Bewerbungsgespräch): ,Gut, wir werden Sie anrufen‘, und das ist es dann“.

          Doch zur Erklärung dafür, warum sich immer noch viele junge Bulgaren mit Auswanderungsgedanken tragen, reicht die Arbeitslosenstatistik nicht aus. Auch die Durchschnittslöhne spielen eine Rolle. Die größte Gruppe der beschäftigten jungen Bulgaren, gut ein Viertel, verdient zwischen 200 und 300 Euro im Monat, ein Drittel sogar nur zwischen 125 und 200 Euro. Nur etwa zwölf Prozent der Befragten gaben an, mehr als 400 Euro monatlich zu verdienen. Zwar sind solche Zahlen mit Vorsicht zu lesen, doch lässt sich sagen: Vor allem gut ausgebildete Bulgaren mit Fremdsprachenkenntnissen fragen sich, warum sie in ihrer Heimat für einige hundert Euro arbeiten sollen, wenn sie in den reichen Staaten Nordwesteuropas für sich und ihre Familie mehrere tausend Euro im Monat verdienen können.

          Ausgeprägter „Bulgaroskeptizismus“

          Das Misstrauen in die eigenen politischen Institutionen und die Attraktivität der Niederlassungsfreiheit sind die wichtigsten Gründe, aus denen „die bulgarische Jugend ihre pro-europäische Orientierung insgesamt behalten hat“, heißt es in der Studie zusammenfassend. Mit Euroskeptizismus lässt sich in Bulgarien tatsächlich keine Wahl gewinnen. Der ausgeprägte „Bulgaroskeptizismus“ vieler Einheimischer steht dem entgegen. Bulgarien, einst neben der DDR der loyalste Bruderstaat der Sowjetunion, und jetzt eines der zuverlässigsten EU-Mitglieder, hat mit nationalen Alleingängen im 20.Jahrhundert schlechte Erfahrungen gemacht. Nach nationalen Kapriolen steht den Bulgaren daher nicht der Sinn. Die Perspektive, ganz mit sich allein zu sein, ist eine Horrorvorstellung für sie.

          Kaum hundert Kilometer weiter westlich auf dem Balkan, im Kosovo, ist der Weg zu einer EU-Mitgliedschaft noch unabsehbar weit, die Zustimmung zu einem Beitritt aber überwältigend: 94 Prozent der jungen Kosovo-Albaner wollen, dass ihr Staat Teil der EU wird. Noch größer ist nur die Ablehnung eines EU-Beitritts durch die jungen Serben im Kosovo: Gerade ein Prozent der Kosovo-Serben sieht die EU positiv. In dieser fast geschlossenen Ablehnung der EU, der Vereinigten Staaten und des Westens insgesamt, die bei den dörflich geprägten Kosovo-Serben viel höher ausgeprägt ist als in Serbien selbst, zeigen sich die Nachwirkungen der mehrmonatigen Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato im Jahre 1999, als deren Folge der kosovarische Staat überhaupt erst entstanden ist.

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          Die jungen Kosovo-Albaner sähen ihr Land dagegen schon als eine Art politische Versicherung gegen Serbien lieber heute als morgen in der EU. Befragt, was denn eine EU-Mitgliedschaft eigentlich bedeute, antworteten die meisten allerdings: Reisefreiheit. Das sei für junge Kosovaren „eine direkte Assoziation“, die alle anderen rechtlichen, institutionellen und wirtschaftlichen Aspekte in den Schatten stelle, so die Initiatoren der Umfrage.

          Wie die jungen Bulgaren misstrauen auch ihre Generationsgenossen im Kosovo dem eigenen Staat. Fast 70 Prozent der kosovarischen Schüler und Studenten geben sich überzeugt, dass an ihrer Schule oder Universität Abschlüsse „oft“ oder zumindest „manchmal“ gekauft werden. (In Bulgarien sind es 25 Prozent, die so antworten). „Große Sorgen“ machen sich die jungen Kosovaren aber vor allem wegen der Arbeitslosigkeit (95 Prozent) und „steigender Armut“ (93 Prozent). Dass die UN-Mission Unmik oder die EU-Rechtsstaatsmission Eulex zur Lösung der Schwierigkeiten beitragen können, glauben sie nicht. Die beiden internationalen Missionen stehen bei jungen Kosovaren ganz unten im Ansehen.

          Junge Kosovaren mit Abstand die Konservativsten

          Von allen befragten Jugendlichen in Südosteuropa sind die jungen Kosovaren mit Abstand die konservativsten. Das größte Vertrauen bringen sie „religiösen Führern“ entgegen, Imamen zum Beispiel. Das Kosovo ist eine streng familienorientierte, patriarchalische Gesellschaft, und zwar auch in der nachwachsenden Generation. „Mit überwältigender Mehrheit sehen sie Heirat und die Gründung von Familien als ihre Zukunftspläne“, ergab die Studie. Knapp 98 Prozent der Jugendlichen sehen die Familie als das wichtigste Ziel im Leben, nahezu alle jungen Kosovaren wollen Kinder, fast zwei Drittel mindestens drei. Dies allerdings nur mit einem Partner aus dem eigenen Volk.

          Passanten in einem Durchgang zur Fußgängerzone im albanischen Teil der Stadt Mitrovica
          Passanten in einem Durchgang zur Fußgängerzone im albanischen Teil der Stadt Mitrovica : Bild: Frank Röth

          Die Zustimmung der Familie zur Hochzeit sei sehr wichtig, sagt Vjollca, eine Achtzehnjährige aus Prishtina: „Meine Eltern würden niemals zustimmen, wenn ich einen Mann mit einer anderen Nationalität oder Religion heiraten würde.“ Auf so eine Idee kommen die meisten jungen Kosovaren allerdings ohnehin nicht. Wenn die Geburtenrate im Kosovo trotzdem seit Jahren sinkt (während die Bevölkerung einstweilen weiter wächst) liegt das daran, dass viele junge Menschen im Kosovo ihren Kinderwunsch aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfüllen können oder weniger Kinder haben, als sie haben wollen. Auch das ist ein Grund zum Verlassen der Heimat: Auswandern, um sich (mehr) Kinder leisten zu können. Befragt, warum sie auswandern wollen, geben 88 Prozent Gründe an, die mit dem höheren Lebensstandard, besserer Bildung und generell attraktiveren wirtschaftlichen Möglichkeiten im Ausland zu tun haben.

          Schweiz ist das Hauptziel der Auswanderung bei Kosovaren

          Bei den Kosovaren ist nicht Deutschland, sondern die Schweiz das Hauptziel der Auswanderung. Ein Drittel der jungen Kosovaren will in das Land, dessen Fußball-Nationalmannschaft derzeit neun Spieler im Kader hat, die im ehemaligen Jugoslawien oder als Kinder jugoslawischer Gastarbeiter in der Schweiz geboren wurden. Das zweitbeliebteste Auswanderungsziel der Kosovo-Albaner sind die Vereinigten Staaten (18 Prozent), erst an dritte Stelle folgt Deutschland (16 Prozent). Die meisten Jugendlichen wollen freilich keineswegs als Bittsteller oder Asylanten ins Ausland gehen, sondern hoffen, über bereits dort ansässige Verwandte beruflich Fuß fassen zu können.

          Das Phänomen der Asylbewerber aus dem Kosovo ist anders gelagert. Hier handelt es sich vor allem um Roma und die ärmsten Albaner vom Lande, die sich in ganzen Clans und Dorfgemeinschaften aufmachen nach Deutschland. Bei früheren Ausreisewellen vom Balkan hieß es oft, die Roma wüssten genau um die Aussichtslosigkeit ihres Asylantrags, zögen es jedoch vor, die harten Wintermonate nicht in ihren armseligen Hütten, sondern satt und sauber in einer beheizten deutschen Asylunterkunft zu verbringen. Da sie jetzt auch im Sommer ausreisen, verfängt diese Erklärung aber nicht. Zum Teil sind es nun offenbar auch Angehörige der kosovarischen „Mittelklasse“, die ihre Habseligkeiten packen und ein Land verlassen, in dem sie keine Zukunft mehr sehen.

          Asylheim als kultureller Schock

          Das gilt freilich nicht für alle. Artan Behrami, geboren 1982 in einem Dorf im Norden des Kosovos, war einst selbst Asylant in Deutschland. Als er zehn Jahre alt war, floh seine Familie vor den Repressalien des serbischen Regimes im Kosovo. „Die ersten Tage unseres Aufenthalts in einem Asylheim in Rüsselsheim waren ein kultureller Schock für uns: Plötzlich war die Polizei nicht feindlich, sondern hilfsbereit! Plötzlich war der Staat keine Gefahr, sondern die beste Lebensversicherung!“, erinnert er sich im Gespräch mit dieser Zeitung. Nach zwei Monaten im Lager wurde die Familie in ein Dorf bei Trier gebracht. Behrami integrierte sich rasch, ging zur Schule, spielte Fußball im Dorfverein und wurde Fan des 1. FC Kaiserslautern.

          Doch bald nach dem Ende des Krieges in Bosnien-Hercegovina, als sich Serbiens Autokrat Slobodan Milošević zum Bewahrer von Frieden Stabilität auf dem Balkan aufspielte und der Westen darauf hereinfiel, schickte Deutschland die Familie Behrami zurück ins Kosovo. „Die deutschen Behörden hatten beschlossen, uns abzuschieben, da unser Asylantrag abgelehnt worden war. Zuvor hatten wir uns geweigert, freiwillig zurückzukehren“, erzählt Behrami. Im Juni 1998 landete die Familie am Flughafen von Prishtina, wenig später schlugen die Scharmützel zwischen albanischen Freischärlern und serbischen Soldaten in einen offenen Krieg um, den die Albaner mit Hilfe der Nato für sich entschieden.

          „Die Nachkriegszeit war voller Enthusiasmus, aber meine Erwartungen waren überzogen und irrational“, erinnert sich Behrami. „Ich dachte, die Freiheit werde alle Schwierigkeiten lösen. Später erkannte ich, dass der Übergang zu einer Demokratie mühsamer sein kann als ein Krieg.“ Der ehemalige Asylbewerber ist immer noch gern in Deutschland, aber sein Land will er keinesfalls mehr verlassen. Artan Behrami ist heute Sprecher des kosovarischen Außenministeriums.

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