NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel Bild: AP
Die NATO richtet ihre Verteidigung auf hybride Kriegsführung aus. Nun wird ermittelt, was die Mitglieder dafür können müssen. Das ist auch für die nächste Bundesregierung von Bedeutung.
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Wenn die NATO-Verteidigungsminister an diesem Donnerstag in Brüssel zusammenkommen, haben sie einen Haufen Strategiepapiere anzunehmen – zwanzig an der Zahl. Die sind, wie üblich, eingestuft und werden nicht veröffentlicht. Hoch geheim ist alles, was mit nuklearer Abschreckung zusammenhängt. Beim letzten Treffen der Staats- und Regierungschefs im Juni wurde ein neues Konzept dafür angenommen: „Verteidigung und Abschreckung im euro-atlantischen Raum“, kurz DDA, nach dem englischen Akronym.
Dessen Grundgedanke: Heutzutage reicht es nicht mehr, sich gegen rein militärische Bedrohungen zu wappnen. Vielmehr sehen sich das Bündnis und seine Mitglieder fast täglich niederschwelligen Attacken im Internet ausgesetzt. Konflikte werden „nicht nur mit Patronen und Bomben ausgetragen, sondern auch mit Bytes und Big Data“, so formulierte es NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch. Die NATO hat deshalb den Cyberraum zur eigenen Domäne ihrer Verteidigung erklärt, neben Luft, Land, See und, ebenfalls neu, dem Weltraum. Sie will frühzeitig auf Angriffe reagieren und dabei selbst möglichst unberechenbar bleiben. Ebenfalls im Juni hat das Bündnis entschieden, dass eine Serie von Cyberangriffen den Bündnisfall auslösen kann, auch wenn jeder einzelne davon unter dessen Schwelle bliebe. Es kommt auf den „kumulativen Effekt“ an.
Es geht um eine abgestufte Reaktion
Das alles gilt es nun, in eine neue Verteidigungsplanung zu übersetzen. Der erste Schritt dazu heißt „Saceur’s AOR Strategic Plan“. Das ist militärisches Kauderwelsch, gemeint ist ein Plan, der den Einsatzraum (area of responsibility, AOR) des Oberkommandierenden für Europa (Saceur) neu gliedert. Bislang verfügt die Allianz zwar über mehrere regionale Hauptquartiere, deren Zuständigkeiten werden im Konfliktfall aber ad hoc festgelegt. Unterstellt wird dabei eine klassische militärische Konfrontation mit Russland.
Nun kehrt das Bündnis einerseits zurück zu einer Organisationsstruktur, die es schon im Kalten Krieg gab: Jedes Korps bekommt einen genau zugewiesenen Einsatzraum. Andererseits geht es dabei um andere Bedrohungen und die Fähigkeit, flexibel darauf reagieren zu können. Ein Cyberangriff auf ein baltisches Land, muss nicht von dort erwidert werden. Aber die Verantwortungsbereiche sollen klar sein.
Auf dieser Grundlage werden dann im nächsten Schritt neue Verteidigungspläne entwickelt, und zwar für den gesamten euroatlantischen Raum. Die Allianz baut dabei auf den „Graduated Response Plans“ auf, die schon nach der russischen Invasion auf der Krim für die baltischen Staaten geschrieben worden sind. Der Name sagt, worum es geht: eine abgestufte Reaktion, die hybrider Kriegsführung gerecht wird, wo der Gegner auch unkonventionelle Mittel einsetzt.
Moskau droht mit Atomwaffen
Klassisches Beispiel dafür sind die „grünen Männchen“, welche die Krim im Handumdrehen unter ihre Kontrolle brachten – russische Spezialtruppen, die ohne Hoheitsabzeichen unterwegs waren, begleitet von Propaganda und Falschmeldungen. Ein moderner Operationsplan legt fest, wie früh und effektiv darauf reagiert werden kann. Bisher wurde das allerdings regional begrenzt entwickelt, künftig will die Allianz alle ihre Hauptquartiere in die Abwehr einbinden. Das betrifft natürlich auch die rasche Mobilisierung und Verlegung von Kampfverbänden. Letztlich geht es darum, die Eskalationsdominanz zurückzugewinnen, die derzeit eindeutig bei Russland liegt.
Der heikelste Teil davon betrifft die Nuklearstrategie. Moskau kompensiert seine konventionelle Unterlegenheit, indem es in einer militärischen Konfrontation frühzeitig mit Nuklearwaffen droht. Auch die Eroberung der Krim wurde mit Flügen strategischer, nuklearfähiger Bomber an der Ostflanke der NATO abgesichert. Das Bündnis muss dem etwas entgegensetzen können, ein eigenes „nukleares Messaging“, wie Militärs sagen. Das könnte etwa heißen, dass mit Atombomben bestückte Bundeswehr-Tornados bei einer bestimmten Konfliktschwelle an die Ostflanke verlegt werden. Darüber wird öffentlich nicht gesprochen, es gehört aber zu den strategischen Überlegungen, wenn die sogenannte Nukleare Planungsgruppe berät, der alle Mitgliedstaaten außer Frankreich angehören. Sie kommt am Freitagmorgen zusammen.
Es fehlen „Enabler“
Parallel zum Ministertreffen findet gerade in Italien die jährliche Atomwaffen-Übung „Steadfast Noon“ statt. Dabei trainieren die Piloten der Allianz den Einsatz taktischer amerikanischer Atombomben – natürlich mit Attrappen. Beteiligt sind ein Dutzend deutsche, belgische, niederländische und italienische Kampfbomber; diese Staaten praktizieren die sogenannte nukleare Teilhabe. Weitere Mitglieder, darunter Polen und Tschechen, geben den Flugzeugen Begleitschutz. Während diese Übungen früher streng geheim waren, informiert die Allianz inzwischen selbst darüber, freilich nur allgemein und mit dem Hinweis, dass sie „nicht mit gegenwärtigen Weltereignissen“ zusammenhänge.
Aus der Verteidigungsplanung werden die künftig benötigten Truppen abgeleitet. Die Verteidigungsminister werden dafür Fähigkeitenziele beschließen, sie sollen ambitioniert sein, wie zu hören ist. Damit beginnt ein neuer Zyklus, in dem dann festgelegt wird, was jedes Mitgliedsland beizusteuern hat, um die Ziele zu erfüllen. Für die Bundeswehr ist dieser Prozess entscheidend, weil er die künftigen Schwerpunkte und Investitionen festlegt, damit auch die Verteidigungsausgaben. Allgemein heißt es bei der NATO, es mangele nicht an Infanteriebataillonen, sondern an „Enablern“.
Gemeint sind militärische Fähigkeiten, die es erst erlauben, Truppen wirklich einzusetzen: Aufklärung, strategischer Lufttransport, digitale Operationsführung, Raketenabwehr. Der Planungszyklus ist, wie üblich, auf vier Jahre angelegt, was für die neue Bundesregierung bedeutsam ist. Sie werde nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, beteuern Diplomaten.