Verfassungsänderung in Ungarn : Mit dem Kopf durch den Zaun
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Viktor Orbán ignoriert die Tatsache, dass das Referendum zur Aufnahme von Nichtungarn ungültig ist. Bild: AFP
Mit seinem Referendum über die europäische Flüchtlingspolitik ist Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gescheitert. Jetzt will er die Verfassung ändern. Was bezweckt er damit?
Granit kann ein erstaunlich weiches Material sein. Die ungarische Verfassung zum Beispiel, die durch die Zweidrittelmehrheit hinter dem national-konservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vor fünf Jahren als Neuschöpfung ins Werk gesetzt worden ist, wurde damals von ihren Urhebern als „in Granit gemeißelt“ gepriesen. Nun hat Orbán die siebte Verfassungsänderung seither auf den Weg gebracht.

Politischer Korrespondent mit Sitz in Wien.
Sie soll den Willen des Volkes, wie er nach seiner Auffassung in dem Referendum vom 2. Oktober zum Ausdruck gekommen ist, unabänderlich (die Granit-Metapher wurde diesmal vermieden) festschreiben. Die Zweidrittelmehrheit hat Orbáns Partei Fidesz nicht mehr, aber die rechtsextreme Partei Jobbik hat bereits Zustimmung bekundet, so dass die Änderung bald beschlossen werden dürfte.
Beim Referendum hatten sich 98 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen gegen eine Aufnahme von Nichtungarn im Zuge einer Flüchtlingsverteilung in der Europäischen Union ausgesprochen, sofern das ungarische Parlament nicht ausdrücklich zustimmt. Freilich hatten nur 43 Prozent der Wahlberechtigten am Referendum teilgenommen und von diesen sechs Prozent ungültige Stimmen abgegeben, wodurch das für ein gültiges Referendum notwendige Quorum von fünfzig Prozent weit verfehlt wurde. Unter Bezug auf die 98 Prozent ist in der Gesetzesbegründung von einer „neuen Einigkeit“ die Rede, die über den Parteien stehe und das Parlament verpflichte
Zu niedrige Wahlbeteiligung : Flüchtlingsreferendum in Ungarn gescheitert
EU-Kommission wird Verfassungsänderung begutachten
Das reizt zu sarkastischen Kommentaren, weil die Tatsache, dass das Referendum ungültig ist, schlicht ignoriert wird. Schon gar spielt die erfolgreiche Kampagne der linken Opposition, ungültig zu stimmen beziehungsweise gar nicht hinzugehen, für Orbán und seine Getreuen keine Rolle. Von außen ist schwer zu beurteilen, ob es sich hier um Autosuggestion handelt oder um den Versuch, einer Behauptung durch Penetranz zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen.
Schnell haben einige linke Kommentatoren die Änderung als pathetisches Geschwurbel ohne Relevanz abgetan. Das könnte ein Irrtum sein. Zwar legt die Präambel solche Gedanken nahe, die im ungarischen Grundgesetz „nationales Bekenntnis“ genannt wird und folgende Ergänzung erhalten soll: „Wir halten fest, dass die Verteidigung unserer konstitutionellen Identität, die in der historischen Verfassung wurzelt, eine grundlegende Pflicht des Staates ist.“ Es ist aber zu erwarten, dass die Juristen der EU-Kommission sich intensiv über die Verfassungsänderung beugen und, wenn sie so beschlossen wird, an einigen Stellen mehr tun werden als nur die Stirn zu runzeln.
Individuelle Anträge sollen von Behörden geprüft werden
Direkt auf das Referendum bezogen ist diese Passage: „Keine fremde Bevölkerung darf in Ungarn angesiedelt werden.“ Ausländische Bürger dürften nur nach vom nationalen Parlament festgelegten Verfahren individuell Anträge auf Aufenthalt stellen, die von ungarischen Behörden zu bewerten seien. Eine Ausnahme wird ausdrücklich für Bürger von Staaten der EU und des Europäischen Wirtschaftsraumes gemacht – alles andere verstieße eklatant gegen EU-Recht.