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Unamerikanische Werte? : Der Sozialismus als Schreckensbild

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Warnung vor den Folgen „extremer Armut“

Die amerikanische Arbeiterbewegung kämpfte in den vergangenen 250 Jahren nicht selten mit der Waffe in der Hand für mehr Rechte. In West Virginia, wo manch einer vor allem „rückständige“ Trump-Unterstützer und „Hillbillies“ vermutet, sind viele Menschen stolz auf eine Geschichte voller Arbeiteraufstände gegen brutale Minenbesitzer. Veränderungen, wie die Abschaffung der Kinderarbeit, gingen in Amerika sehr viel langsamer vonstatten als in vielen europäischen Ländern. Noch immer arbeiten Kinder, besonders wenn sie ohne Papiere im Land sind, vielerorts in der Landwirtschaft.

Die europäische, von Hermann Heller und anderen geprägte Vorstellung eines sozialen Rechtsstaates, in dem echte demokratische Teilhabe von einem Mindestmaß an sozialer Kohäsion abhänge, ist in der amerikanischen Rechtstheorie bekannt, sie ist aber nicht Staatsräson. Das Land leistet sich ein Ausmaß an Verelendung, das die meisten anderen westlichen Industrienationen nicht kennen. Im Jahr 2018 warnte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen Philip Alston nach einer Reise durch Amerika vor den Folgen der Armut.

Laut seinem Bericht lebten 18,5 Millionen Menschen in „extremer Armut“. Die Vereinigten Staaten hätten die krasseste Einkommensungleichheit der westlichen Welt – von den Steuererleichterungen der Trump-Regierung profitierten vor allem die Reichen, so Alston.  Anderen Erhebungen zufolge können vier von fünf Amerikanern keine Rücklagen bilden, weil sie zu hohe Schulden und zu geringe Löhne haben. Mehr als eine halbe Million Menschen zählen die Behörden  jede Nacht auf der Straße oder in Obdachlosenheimen – allein in New York sind darunter auch 23.000 Minderjährige.

Politisches Engagement gegen die soziale Ungleichheit findet in Amerika oftmals nicht innerhalb von Parteien statt. Die Parteien sind nicht, wie etwa in Deutschland, als Volks- und Mitgliederparteien organisiert, obwohl es regionale und thematische Komitees gibt. Soziale Bewegungen außerhalb der Parteien haben für den Wandel im Land stets eine große Rolle gespielt: von den Abolitionisten, die die Sklaverei bekämpften, über die Frauen- und Antikriegsbewegung bis zu den Lehrerstreiks dieser Tage, die eine Erhöhung sehr niedriger Löhne erzwangen.

Linke setzen auf Graswurzelbewegungen

Auch Linke pflegen eine Distanz gegenüber dem Staat als Regelungsinstanz und vertrauen oftmals der Stärke ihrer Graswurzel-Bewegungen. Viele der neuen Kongressmitglieder ließen sich erstmals für ein politisches Amt aufstellen, weil sie erkannt haben, dass diese Haltung auch ein Hemmschuh des sozialen Fortschritts sein kann.

Die Ablehnung staatlicher Interventionen und der Stolz auf ein vermeintlich rein marktgesteuertes System baut zudem in Teilen auf einer falschen Wahrnehmung der Realität auf: vieles ist in den Vereinigten Staaten nicht dem Markt überlassen, sondern stark reguliert – nur variiert das Maß der Regulation von Bundesstaat zu Bundesstaat, zum Teil von Stadt zu Stadt. So gibt es beispielsweise strenge Regeln für die Integration von Menschen mit Behinderungen in die Unternehmen, und in Städten wie New York existiert ein System öffentlicher Mietenregulierung, das man anderswo nicht kennt. Die notorisch langsame Post ist eine formal unabhängige staatliche Agentur, über deren Preisentwicklung aber der Kongress wacht und deren Vorstandsmitglieder im „Board of Governors“ mehrheitlich vom Präsidenten ernannt werden.

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