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Russischer Angriffskrieg : Gegenwind für Baerbocks Vorstoß zu Sondertribunal

Annalena Baerbock spricht am 24. Januar spricht vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Bild: dpa

Die Außenministerin will ein gemischtes Tribunal nach ukrainischem Recht – doch das dürfte Putin nicht anklagen. Dagegen regt sich nun Widerspruch in der EU.

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          Annalena Baerbock wagte sich weit vor, als sie Mitte des Monats eine Grundsatzrede in Den Haag hielt. Für ein hybrides Sondertribunal sprach sich die grüne Außenministerin aus. Es soll die russische Führung für das Verbrechen der Aggression zur Verantwortung ziehen, nach ukrainischem Recht, aber mit internationalen Richtern. Sie habe sich dazu mit dem ukrainischen Außenminister abgesprochen, sagte sie. In ihrem Umfeld wurde der Eindruck erweckt, man müsse nur noch die Details klären, etwa wo genau das Gericht sitzen solle.

          Thomas Gutschker
          Politischer Korrespondent für die Europäische Union, die Nato und die Benelux-Länder mit Sitz in Brüssel.

          Nun aber bekommt Baerbock mächtig Gegenwind für ihren Vorschlag. Schon beim Treffen der EU-Außenminister am Montag war das zu spüren, als sich mehrere Kollegen ausdrücklich dagegen wendeten. Beim Treffen der Justizminister am Freitag in Stockholm setzte sich das fort. Öffentlich ließ nur Frankreich erkennen, dass es für den deutschen Vorschlag aufgeschlossen sei. Dagegen wiesen die Minister aus Belgien, Luxemburg und Lettland, das für die drei baltischen Staaten sprach, ihn explizit zurück, die aus der Österreich, Finnland und der Slowakei implizit. So deutlich war der Widerspruch, dass Justizkommissar Didier Reynders darauf hinwies, wie wichtig es sei, in dieser Frage geschlossen zu bleiben.

          Gegen die „hohen Tiere“ vorgehen

          Davon ist die Union jedoch weit entfernt. Baerbock hatte sich mit ihren Kollegen nicht abgesprochen, bevor sie nach Den Haag fuhr. Und inzwischen haben die meisten Regierungen verstanden, was der Pferdefuß an ihrem Vorschlag ist. Die Außenministerin hatte es in einem Satz erwähnt, wie nebenbei: Ein solches Tribunal würde „gerade die Troika nicht anklagen können“, also den russischen Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten und den Außenminister. Die genießen absolute Immunität, wenn ein anderer Staat über sie zu Gericht sitzt – und so wäre es bei einem Tribunal nach ukrainischem Recht. Nur die anderen Mitglieder des nationalen Sicherheitsrats der Russischen Föderation könnten angeklagt werden, etwa Verteidigungsminister Sergej Schoigu oder der stellvertretende Vorsitzende Dmitrij Medwedew.

          Ohne eine Anklage gegen Putin wäre die Bedeutung eines Tribunals „nicht sinnlos“, würde aber an Bedeutung verlieren, sagte der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne. Man müsse doch gegen die „hohen Tiere“ vorgehen. „Wenn man von Akten der Aggression spricht, muss man auf die Aggressoren blicken“, so der liberale Politiker. Das war am Freitag oft zu hören. Es dürfe da „keine Strafbarkeitslücke geben“, argumentierte Österreich.

          Bedenken wurden auch laut, ob ein Tribunal nach ukrainischem Recht die notwendige Legitimation besitze. Es dürften keine Zweifel an der Unabhängigkeit des Gerichts aufkommen, hieß es von luxemburgischer Seite. „Es gibt viele unbeantwortete Fragen hinsichtlich der Umsetzung ukrainischen Rechts, das geändert werden muss“, sagte Inese Libina-Ignere, die lettische Justizministerin. Sie sagte, dass alle drei baltischen Staaten ein hybrides Tribunal ablehnten und stattdessen ein Gericht nach internationalem Recht bevorzugten, das Putin anklagen könnte.

          Lassen sich die internationalen Partner überzeugen?

          Das müsste freilich vom UN-Sicherheitsrat eingesetzt werden, wo Moskau ein Vetorecht hat. Hilfsweise könnte die UN-Generalversammlung einspringen, den UN-Generalsekretär beauftragen und einem solchen Ad-hoc-Gericht Legitimität verleihen. „Wir sollten nach einer Mehrheit von Ländern auf allen Kontinenten streben, die groß genug ist, um ein internationales Sondertribunal einzurichten“, sagte der Belgier Van Quickenborne. Das Verbrechen der Aggression dürfe nicht nur von Europäern und Amerika verurteilt werden.

          Diesen Einwand kennt zwar auch Baerbock. Sie glaubt aber, dass eine solche Mehrheit unrealistisch sei. Wirklich? Justizkommissar Reynders sagte, dass man erst am Anfang der Bemühungen stehe. „Aber um das zu erreichen, benötigen wir eine führende Rolle der EU und der EU-Kommission, um nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die internationalen Partner zu überzeugen.“

          Ende November hatte die EU-Kommission beide Optionen in einem Papier entwickelt, ein hybrides und ein internationales Tribunal. Den nächsten Schritt könne man gehen, ohne sich schon festzulegen, sagte der Justizkommissar. Das soll die Einsetzung einer provisorischen Anklagebehörde sein. Die könnte bei Eurojust eingerichtet werden, der EU-Justizbehörde in Den Haag. Sie soll dort mit dem schon bestehenden internationalen Ermittlungsteam (JIT), an dem sich sieben Staaten beteiligen, und dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs zusammenarbeiten. Die befassen sich bereits mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Gegen Aggression darf der Strafgerichtshof in diesem Fall jedoch nicht ermitteln – weshalb nach einer anderen Lösung gesucht wird.

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