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Ukraine : Schüsse in den Rücken

Scharfschütze in Kiew am 20.02.2014 Bild: reuters

Der Verdacht ist ungeheuerlich. Heckenschützen, die in Kiew auf Demonstranten geschossen hatten, seien nicht etwa vom Regime eingesetzt worden. Es seien eigene Mitstreiter gewesen, die heute die Regierung stellen.

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          Der Verdacht ist ungeheuerlich, und er kam immerhin von einem Regierungsmitglied eines EU-Mitgliedslandes: Der estnische Außenminister Urmas Paet hat in einem abgehörten Telefongespräch offenbar angedeutet, die „Toten des Majdan“, also die Demonstranten gegen den mittlerweile gestürzten Präsidenten Janukowitsch, die unter anderem am 20. Februar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew von Heckenschützen erschossen worden sind, seien nicht etwa vom Regime ermordet worden, sondern von ihren eigenen Mitstreitern, die heute die Regierung stellen.

          Konrad Schuller
          Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Paet hatte diese Möglichkeit am 26. Februar in einem Telefongespräch mit der Hohen Beauftragten der EU für Außenpolitik, Catherin Ashton, angesprochen und sich dabei auf ein Gespräch mit der ukrainischen Ärztin Olga Bohomolez berufen, die während der Straßenkämpfe im Sanitätsdienst der Opposition viele Opfer untersucht hatte. Das estnische Außenministerium hat die Echtheit des Gesprächs bestätigt, weist aber darauf hin, dass er die darin enthaltenen Vermutungen nicht bewertet habe.

          Paet gab in dem Gespräch eine Aussage von Olga Bohomolez wieder, die ihm gesagt habe, die Verletzungen der toten Demonstranten sowie die einiger Polizisten, die an jenen Tagen ebenfalls erschossen wurden, trügen „dieselbe Handschrift“. Es sei „dieselbe Art von Geschossen“ verwendet worden. Paet fügt hinzu, es gebe deshalb eine immer stärker werdende „Auffassung, dass hinter den Heckenschützen nicht Janukowitsch stand, sondern jemand aus der neuen Koalition“.

          Auffällige Indiskretionen

          Die Kronzeugin bestreitet aber, die von Paet zitierten Aussagen. Einem Reporter der englischen Zeitung „Daily Telegraph“ gegenüber hat Olga Bohomolez nämlich vehement geleugnet, die Vermutungen angestellt zu haben, welche Paet ihr zuschreibt. Vor allem bestreitet sie, die Verletzungen der Toten auf beiden Seiten jemals verglichen zu haben. „Ich habe nur Teilnehmer der Proteste gesehen. Ich weiß nicht, welche Art von Wunden die Soldaten hatten. Ich habe zu diesen Leuten keinen Zugang“, sagte sie – und fügte dann als erfahrene Ärztin noch hinzu: „Niemand, der bei der Behandlung von Opfern einfach nur die Wunden sieht, kann eine Aussage über die Art der Waffen treffen.“

          Wer Paets Telefonat mit Ashton abgehört hat, und wie der Mitschnitt an die Öffentlichkeit gekommen ist, war vorerst nicht zu klären. Allerdings hatte es vor einigen Wochen schon einmal eine auffällige Indiskretion gegeben, als ein abgehörtes Telefonat zweier hoher amerikanischer Diplomaten Differenzen in der Ukraine-Politik der Vereinigten Staaten und der EU offenlegte. Beide Male wurden die Indiskretionen vor allem in russischen Medien weidlich herausgestellt und kommentiert.

          Paets Mutmaßung über Oppositionelle, die auf die eigenen Leute geschossen haben sollen, fällt jedenfalls mit einer Theorie zusammen, das auch das zuletzt von Russland unterstützte Regime Janukowitsch immer wieder verbreitet hat – der Behauptung, dass die Gegner des gestürzten Präsidenten ihre eigenen Leute ermordeten, um Hass zu schüren, und Janukowitsch zu diskreditieren. Unter anderem war Janukowitschs im Januar entlassener Ministerpräsident Mykola Asarow mit solchen Meinungen zitiert worden. Die Gegenthese der neuen proeuropäischen Führung hat am Dienstag dagegen der geschäftsführende Innenminister Arsen Awakow vorgetragen. Ohne Russland zu nennen, sagte er, der „Schlüsselfaktor in der Konfrontation, die zum Massaker von Kiew geführt hat“ sei eine „dritte Kraft“ gewesen, und diese Kraft sei „nicht ukrainisch“.

          Insgesamt haben durch die Kiewer Straßenkämpfe vom Januar und Februar nach Angaben des Gesundheitsministeriums 98 Menschen ihr Leben verloren. Die meisten starben am 20. Februar, als Heckenschützen in die Menge der Demonstranten am Unabhängigkeitsplatz feuerten, ohne dass eine unmittelbare Notwehrsituation vorlag. In der folgenden Nacht floh Janukowitsch, nachdem die Menge der Demonstranten durch das Blutbad nur noch weiter anwuchs und Drohungen laut wurden, seinen Amtssitz zu stürmen.

          Unterdessen haben die Ermittlungen der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft über die Todesfälle möglicherweise erste Ergebnisse erbracht. Generalstaatsanwalt Oleh Mahnitsky sagte am Mittwoch jedenfalls, die Heckenschützen hätten offenbar aus dem Gebäude der Nationalbank auf einem Hügel über dem „Majdan“ gefeuert. Mittlerweile seien auch Verdächtige identifiziert worden, unter ihnen Offiziere aus den Truppen des Innenministeriums auf der Krim. Eine noch zu Zeiten Janukowitschs ins Auge gefasste Überwachung der Ermittlungen unter Beteiligung des Europarats ist unterdessen noch nicht in Gang gekommen.

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