Wegen blutiger Proteste : Türkische Justiz geht gegen prokurdische HDP vor
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Sinkende Umfragewerte für seine AKP: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer online übertragenen Pressekonferenz am Montag in Ankara Bild: AP
Die türkische Justiz will Verfahren gegen Dutzende prokurdische Politiker eröffnen. Die Vorwürfe konzentrieren sich auf Vorgänge vor sechs Jahren. Will Erdogan damit nur von steigenden Corona-Zahlen ablenken?
Die türkische Regierung sagt, die Haftbefehle seien allein eine Angelegenheit der Justiz. Die oppositionelle HDP, die das Ziel der aktuellen Verhaftungswelle ist, hält das Vorgehen der Justiz jedoch für politisch motiviert. Jedenfalls hat die türkische Justiz seit Freitag wegen Ereignissen, die sechs Jahre zurückliegen, den Druck auf die prokurdische Partei HDP erhöht.

Redakteur in der Politik.
So hat der Generalstaatsanwalt von Ankara erst Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die HDP stellt im türkischen Parlament die drittgrößte Fraktion. Von den 82 Gesuchten wurden bislang 19 festgenommen. Sie werden nach Ankara gebracht, wo sie von der Anti-Terror-Einheit der Staatsanwaltschaft vernommen werden. Die anderen befinden sich angeblich im Ausland. Die Türkei will sie bei Interpol auf die Fahndungsliste setzen.
Unter den Festgenommenen befinden sich prominente Politiker wie der Ko-Bürgermeister der ürkischen Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der frühere Abgeordnete Süreyya Önder, der im Auftrag des türkischen Regierung über Jahre zwischen dem türkischen Staat und dem lebenslang inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan vermittelt hatte.
Zusammenstöße mit mehr als vierzig Toten
Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit Protesten vom Oktober 2014, die sie heute als „Terrorakte“ einstuft. Damals drohte die Terrormiliz IS, die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte daher zu Solidaritätskundgebungen für Kobane aufgerufen. Ihre Politiker warfen dem türkischen Staat vor, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen.
Vom 6. bis 8. Oktober 2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen mehr als vierzig Menschen getötet. Die Staatsanwaltschaft teilte jedoch nicht mit, welche Vergehen sie den Personen vorwirft, gegen die sie nun vorgeht. Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die im Oktober 2014 Ko-Vorsitzende der HDP waren, sind bereits seit 2016 und 2017 in Haft. Die HDP hat im Parlament dreimal beantragt, die Unruhen untersuchen zu lassen. Die Anträge wurden jedes Mal von den Fraktionen der AKP und der rechtsnationalistischen MHP abgelehnt.
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JETZT F+ KOSTENLOS SICHERNAblenkung von sinkenden Umfragewerten für die AKP?
Der Ko-Vorsitzende Mithat Sancar wirft der Regierungspartei AKP vor, als Folge ihrer sinkenden Umfragewerte „alte Geschichten auszugraben“. Nicht mehr ausgeschlossen wird, dass der türkische Staat, sollte sie den Druck auf die HDP weiter erhöhen wollen, diese ebenso verbieten könnte, wie mehrere ihrer Vorgängerparteien verboten worden sind. In den vergangenen Monaten hat der Staat von den 65 HDP-Bürgermeistern, die bei der Kommunalwahl von 2019 gewählt worden waren, 47 abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt.
Der unabhängige und angesehene Analyst Murat Yetkin sieht drei Motive, weshalb der türkische Staat sechs Jahre nach den Ereignissen diese gegen die HDP aufrollt. So rechnet er, erstens, mit einer Deeskalation im Konflikt im östlichen Mittelmeer, weshalb der erhöhte Druck auf die HDP die nationalistische Woge unter den Wählern der AKP und MHP hochhalten solle. Zweitens könnte der Präsident und AKP-Vorsitzende Tayyip Erdogan einen Keil zwischen die beiden Oppositionsparteien CHP und Iyi treiben, denn die CHP kooperiert mit der HDP, die Iyi-Partei steht ihr aber reserviert gegenüber. Drittens lenke das Vorgehen von Covid-19 ab. Denn am selben Tag, an dem die Verhaftungswelle begann, verkündete Gesundheitsminister Fahrettin Koca einen „alarmierenden Anstieg“ der in Krankenhäusern behandelten Covid-19 Patienten.