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Türkei : Erdogans harte Hand gegen die Kurden

Der türkische Präsident Erdogan bei einer Rede in Ankara Bild: Reuters

Nach der Absetzung kurdischer Bürgermeister erschüttert Gewalt die Südosttürkei. PKK-Führer Öcalan bietet Gespräche an, doch daran scheint in Ankara niemand interessiert. Der Konflikt hat eine neue Eskalationsstufe erreicht.

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          Die türkische Regierungspartei AKP versucht sich derzeit an einem Unterfangen, dessen Sinnlosigkeit sie vor einigen Jahren selbst eingesehen hatte. Sie will versuchen, das „Kurdenproblem“ mit militärischer Gewalt und Strafmaßnahmen zu lösen, angereichert durch die Ankündigung von mehr Investitionen im kurdisch dominierten Südosten Anatoliens. Mit solchen Ansätzen waren vor ihr schon andere Machthaber in Ankara gescheitert, denn die Kombination aus mehr geteerten Straßen einerseits und Panzern als Drohkulisse andererseits hatte nie dazu geführt, dass sich Kurden in maßgeblicher Anzahl vom Kampf um Gleichberechtigung und Autonomie abwandten.

          Michael Martens
          Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.

          Vor einigen Jahren wollte der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt daher durchbrechen, indem er sich an Lösungen orientierte, mit denen andere Länder ihr Terrorproblem überwunden hatten. Erdogan beauftragte seinen Geheimdienstchef Hakan Fidan, Verhandlungen mit der kurdischen Terrororganisation PKK sowie deren seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Gründervater Abdullah Öcalan einzuleiten, der unter vielen Kurden eine geradezu mythische Verehrung genießt. Die Verhandlungen fanden anfangs streng geheim statt, unter anderem in Oslo. Sie waren ein mutiger Schritt, der von der Opposition kritisiert wurde.

          Doch einstweilen ist der Versuch, das wirtschaftlich zurückgebliebene Südostanatolien durch einen historischen Kompromiss mit der PKK zu befrieden und dadurch auch für Investoren attraktiv zu machen, gänzlich gescheitert. Die PKK verübt längst wieder Anschläge, und die türkische Armee geht längst wieder mit Kampfbombern gegen ihre Rückzugsorte in den nordirakischen Kandil-Bergen vor. Laut einer Statistik der „International Crisis Group“ kamen allein vom Juli 2015 bis zum Juli 2016 mehr als 300 Zivilisten, etwa 580 türkische Soldaten und andere Sicherheitskräfte sowie 650 kurdische Freischärler bei den Kämpfen ums Leben. Im Schnitt gab es also mehr als vier Todesopfer pro Tag. Hinzu kommen die Kämpfe der türkischen Armee im Norden Syriens gegen den dortigen PKK-Ableger YPG.

          Der Konflikt hat eine neue Stufe erreicht

          Nun hat der Konflikt jedoch eine neue Stufe erreicht, indem der türkische Staat auch gegen demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister vorgeht. Am Sonntag hat die Regierung 28 Bürgermeister für abgesetzt erklärt und durch vom Innenministerium bestimmte Verwalter ersetzt. Zwei Dutzend Abgesetzte werden bezichtigt, Verbindungen zur PKK unterhalten zu haben. Die anderen vier seien Anhänger Gülens. Erdogan lobte die Absetzung der Bürgermeister und Stadträte. Er wandte nur ein, sie hätte schon früher erfolgen müssen. Erdogans Vertrauensmann, der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim, erklärte zur Absetzung der Bürgermeister am Montag, leider seien einige Gemeinden „zu logistischen Zentren“ der PKK geworden: „Sie haben illegale Handlungen begangen, etwa den Transfer von staatlichen Ressourcen und Steuermitteln zu der separatistischen Terrororganisation, statt sie zur Entwicklung der jeweiligen Provinz, des Bezirks oder der Stadt einzusetzen.“ Dies hätten Ermittlungen gezeigt, so Yildirim.

          Nicht nur Kurden fragen freilich, ob für eine Verurteilung der Abgesetzten in einem rechtsstaatlichen Verfahren genügend belastbares Beweismaterial vorliegt. Die Kurdenpartei HDP, deren Bürgermeister hauptsächlich von den Absetzungen betroffen sind, sprach denn auch von einem „Verwaltungsputsch“. Justizminister Bekir Bozdag hielt dem entgegen, kein demokratischer Staat könne Bürgermeistern oder Stadträten erlauben, Gemeindemittel zur Finanzierung von Terrorbanden zu nutzen: „Ein gewählter Amtsträger zu sein, ist keine Lizenz zum Begehen einer Straftat.“

          Kurz vor Yildirims Erklärung waren am Montag bei der Explosion einer Autobombe vor dem Gouverneursamt sowie dem lokalen AKP-Parteibüro in der Provinz Van mindestens 50 Personen verletzt worden. Es war gleichsam ein Terrorakt mit Ansage, denn dass es nach der Absetzung gewählter Bürgermeister, die ohne Verkündung eines Termins für Neuwahlen erfolgte, zu Gewalt kommen würde, war zu erwarten gewesen. Unklar ist dagegen, wie die AKP die nun weiter angeheizte Gewaltwelle wieder einhegen will. Die HDP soll als „politischer Arm der PKK“ empfindlich geschwächt, womöglich verboten werden. Die Devise, „besser eine PKK im Parlament als eine PKK in den Bergen“ gilt offenbar nicht mehr. Wer in der Türkei derzeit auch nur darauf hinweist, dass am Ende doch Verhandlungen mit den Kurden nötig sein werden, setzt sich der Gefahr einer Anklage wegen Unterstützung des Terrorismus aus.

          Bemerkenswert ist dabei aber, dass Ankara am gleichen Tag, an dem die Absetzung der Bürgermeister verkündet wurde, die totale Isolation des 1999 zu lebenslanger Haft verurteilten und auf der Insel Imrali im Marmarameer festgehaltenen Öcalan für einen Tag aufhob: Öcalans Bruder Mehmet durfte auf Imrali mit ihm sprechen. Zuletzt hatte Öcalan im Frühjahr 2015 mit der (kurdischen) Außenwelt Kontakt, als eine Delegation der HDP ihn besuchen durfte. Am Montag nun verlas Mehmet Öcalan in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der türkischen Kurden, eine Botschaft seines Bruders aus dem Gefängnis. Darin machte Abdullah Öcalan deutlich, dass er zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen bereit sei: „Wir haben Vorschläge. Wenn der türkische Staat bereit ist, sie anzuhören, können wir die Gespräche zu Ende führen und sie in sechs Monaten konkret werden lassen“, soll Öcalan nach den Worten seines Bruders gesagt haben.

          Wenn der Staat bereit sei, so schicke er zwei Leute (zu Verhandlungen) in sein Gefängnis, zitierte er Öcalan weiter. Nach allem, was sich getan hat, ist es indes unwahrscheinlich, dass die Botschaft von Imrali in Ankara gehört werden wird.

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