
In den Vereinigten Staaten sind seit 1973 nach Angaben des gemeinnützigen Death Penalty Information Center 186 zum Tod Verurteilte als unschuldig entlassen worden. Im Sommer hat die Biden-Regierung die Vollstreckung von Hinrichtungen auf Bundesebene ausgesetzt. Begründet wurde das mit der überproportionalen Betroffenheit von Schwarzen und der „beunruhigenden“ Zahl von Fehlurteilen. Dennoch warten fast 2500 zum Tod Verurteilte in den Bundesstaaten auf ihre Hinrichtung. Bis vor Kurzem auch Pervis Payne. Sein Fall zeigt, welche Rolle die Hautfarbe im Justizsystem spielen kann. Und er stellt die grundsätzliche Frage: Kann ein Staat garantieren, dass kein Unschuldiger hingerichtet wird?
Die Tat
Der Tod bricht unvermittelt ein in das Leben von Charisse Christopher und ihren beiden Kindern. Der 27. Juni 1987 ist ein heißer Samstag im Shelby County in Tennessee. Charisse hat am Vormittag ihre Eltern besucht, der Großvater hat mit dem dreijährigen Nicholas und dessen ein Jahr jüngerer Schwester Lacie Jo im Garten geschaukelt. Gegen 13 Uhr macht sich die Familie auf den Weg nach Hause, Zeit für den Mittagsschlaf.
Charisse ist das drittälteste von acht Kindern, Fotos jener Zeit zeigen eine zierliche Frau mit dunklen Locken und braunen Augen. Sie ist 28 Jahre alt, geschieden, und wohnt mit ihren Kindern in einem Apartment in der 4516 Biloxi Street in Millington, erster Stock. Um 15.23 Uhr erreicht die Polizei an jenem Samstag ein Anruf von der Hausverwalterin. Sie meldet Schreie und Gepolter aus der Wohnung über ihr. Der Wohnung der Familie Christopher.
Soweit lässt sich Charisses Tag anhand von Zeugenaussagen im Prozess rekonstruieren. Doch was danach geschieht, ist bis heute ungeklärt. Irgendwann muss sie ihrem Mörder die Tür geöffnet haben. Im Prozess berichtet der Gerichtsmediziner von 42 Stichwunden an Hals, Brust und Bauch, außerdem 42 Abwehrverletzungen an Armen und Händen. Auch Lacie Jo überlebt den Angriff nicht, ihr Bruder wird schwer verletzt.
Der Prozess
Die Akten jenes Prozesses lagern im Berufungsgericht in Jackson, eineinhalb Stunden östlich von Memphis. Mehr als 1500 Seiten Protokoll, Fotos, eine Videoaufnahme vom Tatort, Schriftstücke. Ein Karton, zwei Versionen des Tattages. In der einen ist Payne vollgepumpt mit Drogen und beantwortet die Zurückweisung einer Frau mit einem Massaker. In der anderen ist er ein junger Mann, der helfen will.
Das County
Für die Juristin Ngozi Ndulue ist der Fall Pervis Payne ein Beispiel dafür, welchen Einfluss Rassismus in der amerikanischen Rechtsprechung hat. „Es ist ein uraltes Stereotyp, das im Fall Pervis Payne bemüht wurde“, sagt sie. „Nämlich das des drogensüchtigen, nach Sex verrückten, schwarzen Mannes.” Für das Death Penalty Information Center hat Ndulue sich angeschaut, welche Rolle die Hautfarbe für die Verurteilung bei Kapitalverbrechen spielt. Ihr Fazit: „Je dunkler die Hautfarbe, desto eher wird die Todesstrafe verhängt.“ Sie geht sogar noch weiter: „Es ist sehr offensichtlich, dass es eine Art historischen Zusammenhang gibt zwischen Lynchjustiz und der Hinrichtung schwarzer Menschen.“ Das gelte ganz besonders für die Südstaaten und jene Counties, die eine lange Tradition von Lynchjustiz haben. Wie etwa Shelby County, wo Payne zum Tod verurteilt wurde.
Das Shelby County liegt im Westen von Tennessee, an der Grenze zu Arkansas. Es umfasst die Metropolregion Memphis und die grüne, ländliche Umgebung im Norden und Osten. Historische Berühmtheit erlangte es, als Martin Luther King 1968 auf dem Balkon eines Hotels in Memphis erschossen wurde. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war Shelby County ein Hotspot der Lynchjustiz. In keinem anderen der 95 Landkreise in Tennessee fielen ihr mehr Menschen zum Opfer.
Die Anwältin
Ist Payne unschuldig? Kelley Henry meint ja. Die Anwältin vertritt ihn seit 2019. Gemeinsam mit dem Innocence Project, das sich für die Aufklärung von Justizirrtümern einsetzt und zuletzt die Aufhebung der Schuldsprüche gegen die Malcom-X-Attentäter erreichen konnte, kämpft sie für Paynes Freilassung. Henry ist Spezialistin für Todeskandidaten, in ihrer Karriere hat sie mehr als 50 vertreten. Nur einmal zuvor war sie von der Unschuld eines Mandanten überzeugt. „Die meiste Zeit verbringe ich damit herauszufinden, warum jemand diese grauenvollen Dinge getan hat und ob die Todesstrafe in diesem Fall angemessen ist“, sagt Henry. „Aber nichts davon trifft auf Pervis zu. Nichts an diesem Mann sagt mir, dass er diese Tat begangen haben könnte. Man wird nicht eines Tages plötzlich verrückt, sticht mehr als 40 Mal auf eine Frau ein, tötet ihr kleines Kind und ist danach wieder völlig normal.“
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