
Ukrainer über ihr Land : Wie lässt sich der Krieg beenden?
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Während ich diesen Text hier schrieb, wurden in Odessa zwei Kämpfer des Regiment „Asow“ (ein ukrainischer Freiwilligenverband, Anm. d. Redaktion) beigesetzt. Eine der Leichen wies Folterspuren auf. Der Mann sollte im geschlossenen Sarg zu Grabe getragen werden. Seine Mutter sagte: „Lasst den Sarg offen, damit alle es sehen.“
Angesichts des täglichen Sterbens und der zynischen Entscheidung Russlands, „alles zu leugnen“, wirken die Passivität unserer Führung wie auch – um es offen zu sagen – die Unentschlossenheit unserer, eventuellen, Verbündeten peinlich genug.
In einem kann man sie allerdings verstehen: Niemand will den ganz großen Krieg. Bis auf ein einziges mächtiges Land. Bis auf das Land, das als Aggressor auftritt: bis auf Russland. Dort liegt heute alle Macht de facto in der Hand eines einzigen Menschen. Er verfügt über eine mit modernen Waffen ausgerüstete Armee. Und er sitzt am Atomknopf.
Wladimir Putin ist wahrlich furchteinflößend. Die Geschichte lehrt unmissverständlich, wohin es führt, wenn Diktatoren zu großer Machtfülle gelangen. Mehr noch: Sie lehrt, dass man Krieg nicht verhindern kann, indem man einen Aggressor „befriedet“. So lässt sich allenfalls Zeit gewinnen.
Dieses Mal soll die Ukraine auf dem Altar eines Molochs geopfert werden. Und leider sind viele bereit, das zuzulassen. Ihnen scheint, dass der Moloch, wenn er erst einmal Krim und Donbass verschlungen habe, einhalten werde.
„Stereoscope Ukraine“ : Boris Chersonskij stellt sich vor
Die Ukraine ist nicht das einzige postsowjetische Land mit einem russischstämmigen und -sprachigen Bevölkerungsanteil. Nach dem Krieg in Georgien fragten wir uns: Wer ist wohl der Nächste? Wie sich zeigte, war es die Ukraine.
Die Frage aber ist geblieben: Wer ist der Nächste?
Roman Dubasevych
Eine Bekannte sprach mich tief bewegt auf die Geschehnisse in Odessa an, die auch Boris Chersonskij hier erwähnt und sie fragte: „Wie lange kann man das noch mit ansehen? Warum schweigt Europa, wenn der Waffenstillstand gebrochen wird? Wie kann man es wachrütteln?“
Vor ein paar Wochen konnte ich mit verfolgen, wie Deutschland der Bombardierung Dresdens gedachte. In fast allen Fernsehdiskussionen zu diesem Thema wurde abschließend daran erinnert, dass zwei Flugstunden entfernt europäische Nachbarn gerade einen ähnlichen Albtraum erleben, und erstmals sprachen die Deutschen den Namen Debalzewe aus.
Ich begriff, dass die Deutschen endlich verstanden haben, welches Grauen sich in der Ukraine abspielt. Fast ein Jahr lang hat das gedauert.
Jetzt hat die Politik das Wort. Die Weltgemeinschaft muss die Einhaltung des Waffenstillstands verschärft kontrollieren und die Entsendung von Friedenstruppen erwägen. Nicht weniger wichtig ist es, die ukrainische Führung von der wahnwitzigen Idee abzubringen, „Russland die Zähne auszubrechen“ und sich „bis zum letzten Schuss“ verteidigen zu wollen.
Die stärkste Waffe der Ukraine besteht jetzt darin, sich unter den derzeitigen schwierigen Umständen so gut wie möglich um ihre Bürger zu kümmern, wo sie sich auch befinden mögen – ob im Separatistengebiet oder anderswo.
„Stereoscope Ukraine“ : Roman Dubasevych stellt sich vor
Über die verstümmelten Soldaten haben mehrere Fernsehsender berichtet. Wenn mir die Kraft fehlte, mir das anzusehen, so nicht zuletzt deshalb, weil angesichts solcher Schrecken mein Verstand aussetzt. Ich empfinde nur noch Verzweiflung oder den Drang nach Rache und erbittertem Widerstand. Dass Debalzewe aufgegeben wurde, war so gesehen kein Verrat, wie die hitzköpfigen Anführer der ukrainischen Freiwilligenregimenter lautstark behaupten, sondern möglicherweise der einzig richtige Schritt – und zugleich der erste auf einem schwierigen, unpopulären Weg, den wir nur gemeinsam mit der Weltgemeinschaft werden gehen können.
Die Autoren
Yevgenia Belorusets ist eine ukrainische Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt und arbeitet in Kiew und teilweise in Berlin. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift für Literatur und Kunst „Prostory“ und der kuratorischen Gruppe „Hudsovet“. Sie arbeitet mit Fotografie, Video und Text an der Schnittstelle zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement, Literatur und Fotografie. Derzeit erstellt sie eine Fotodokumentation über den Alltag in den vom Krieg betroffenen Gebieten der Ostukraine.
Boris Chersonskij, Dichter und Arzt aus Odessa, war zu Sowjetzeiten ein wichtiger Vertreter des Samisdat. Für seine russischsprachige Lyrik erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, auch in Russland. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Gedichtband „Familienarchiv“ (Wieser 2011). Anfang Februar dieses Jahres explodierte vor seiner Wohnung eine Bombe, die unbekannte Attentäter dort deponiert hatten.
Roman Dubasevych, Kulturwissenschaftler aus Lwiw (Lemberg), hat in Regensburg und Greifswald studiert und derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Greifswald inne. Er beschäftigt sich unter anderem mit Erinnerungskultur und Postmoderne.
Oleksandra Dvoretskaya ist eine Menschenrechtlerin aus Simferopol auf der Krim. Im März 2014 flüchtete sie nach Kiew. Dort arbeitet sie derzeit als Koordinatorin bei der Organisation „Wostok SOS“, die sich um ukrainische Binnenflüchtlinge kümmert.
Olena Stepova nannte sich vor dem Krieg noch russisch Jelena Stepanez. Sie lebt in Swerdlowsk, einer Stadt im Gebiet Luhansk. Seit Ausbruch des Krieges im Donbass betreibt sie mehrere Blogs, in denen sie ihre Beobachtungen über Stimmung und Befindlichkeiten der Menschen in der Ostukraine mitteilt.
Ivan Yakovina ist ein Moskauer, der im westukrainischen Lwiw (Lemberg) lebt und in Kiew arbeitet. Er ist Auslandsredakteur und Analyst des Magazins „Nowoje Wremja“ und außerdem Leiter des Fernseh-Programms „Hromadske.tv auf Russisch“. Bis zum Frühjahr 2014 war er Redakteur beim unabhängigen russischen Internetmagazin lenta.ru. Er ging, als die Chefredakteurin entlassen wurde und das Magazin eineKreml-nahe Leitung bekam.
Die Gastbeiträge der Reihe „Stereoscope Ukraine“ erscheinen fünf Wochen lang jeden Freitag.