Parlamentswahl in Georgien : Zwei mächtige Nicht-Kandidaten
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Allgegenwärtig: Plakate vor der georgischen Parlamentswahl am Sonntag Bild: EPA
Die Wahl in Georgien wurde trotz Corona nicht verschoben. Die Regierungspartei sah ihren dritten Sieg in Folge in Gefahr.
Im Frühjahr galt Georgien als Musterland. Rasch wurden in der Corona-Pandemie strikte Beschränkungen verhängt, Polizei und Armee riegelten Städte ab. Es gab nur wenige Infizierte und Todesfälle. Seit September steigen die Fallzahlen in dem südkaukasischen Land mit gut 3,7 Millionen Einwohnern aber rasant an. Am Freitag waren 17.142 aktiv Infizierte registriert; 285 Menschen sind bisher offiziell an Covid-19 gestorben. Zwar müssen etwa in der Hauptstadt Tiflis Restaurants um 22 Uhr schließen. Doch vor der Parlamentswahl am Samstag scheut die Regierung des „Georgischen Traums“ davor zurück, härtere Maßnahmen zu ergreifen.

Politischer Korrespondent für Russland und die GUS in Moskau.
Im Frühjahr galten zehn Corona-Neuinfektionen pro Tag als „gefährliche Tendenz“. Am Freitag waren es 1696 neue Fälle. Zu viele für das stolze, aber arme Land. Labore sind überlastet, Medizinstudenten sollen Kranke versorgen. Dennoch sieht Ministerpräsident Giorgi Gacharia nun eine „andere Situation“. Im Frühjahr habe man nicht genug Masken gehabt, jetzt schon, daher sei kein neuer „Lockdown“ nötig.
Neue Spannungen mit Russland
Gacharia gibt auch zu: „Unsere Wirtschaft hält das nicht aus.“ In der ersten Jahreshälfte sank Georgiens Bruttoinlandsprodukt um 5,8 Prozent. Der Durchschnittsmonatslohn ist auf umgerechnet 300 Euro gefallen. Ein Fünftel der Georgier gilt als arm, die Schattenwirtschaft ist groß. Berge, Strände, Wein und die Clubs von Tiflis zogen in den vergangenen Jahren immer mehr Touristen an. Das ist erst mal vorbei. Das Bild trüben Schlägereien und Angriffe im Wahlkampf sowie ein Banküberfall mit Geiselnahme in der westgeorgischen Stadt Sugdidi. Bei derartigen Sorgen spielt der Krieg zwischen den Nachbarländern Aserbaidschan und Armenien für die meisten Georgier keine große Rolle; immerhin halten Minderheiten beider Völker im Land den Frieden.

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Jetzt F+ kostenlos sichernFür die Wahl gelten pandemiebedingte Vorsichtsmaßnahmen. Gegen eine Verschiebung sprach für den „Georgischen Traum“, dass er den dritten Sieg in Folge nach 2012 und 2016 in Gefahr sah. Die Regierungspartei will den von einer Mehrheit der Bevölkerung befürworteten Kurs der Integration in EU und Nato fortsetzen. Seit 2017 gilt Visumfreiheit mit dem Schengen-Raum, seit 2016 ein Freihandelsabkommen mit der EU, für 2024 verspricht der „Georgische Traum“ ein EU-Beitrittsgesuch. Die Regierung hielt sich zugleich mehr Pragmatismus im Verhältnis zu Russland zugute, das mit Abchasien und Südossetien ein Fünftel des georgischen Staatsgebiets kontrolliert.
Die Entspannungspolitik erlitt aber im Sommer 2019 einen Dämpfer: In Tiflis setzte sich im Rahmen eines Forums christlich-orthodox geprägter Länder ein russischer Abgeordneter auf den Sitz des georgischen Parlamentspräsidenten. Es folgten Massenproteste und Polizeigewalt. Russland verbot als Reaktion auf die „russophobe“ Aufwallung Direktflüge ins Nachbarland, wie schon von 2008 bis 2014. Viele Geschäftsbeziehungen bestehen indes fort. Georgien bezieht den meisten Treibstoff aus Russland.
Tricksereien beim Wahlrecht
Dort hat Bidsina Iwanischwili, der Gründer des „Georgischen Traums“, sein Vermögen erworben. Die amerikanische Zeitschrift „Forbes“ schätzt es auf 4,8 Milliarden Dollar. Das ist etwas weniger als Georgiens Haushalt für 2020 und entspricht knapp einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Iwanischwili, der in einer modernen Villa hoch über der Altstadt Tiflis wohnt, ist Georgiens starker Mann. Doch der Regierung stand er nur 2012 und 2013 vor, kehrte erst 2018 auf den Vorsitz des „Georgischen Traums“ zurück und steht auch jetzt nicht auf den Kandidatenlisten. Viele beklagen, dass seine informelle Führung Georgien schade: „Fortschrittsberichte“ der EU monieren mangelnde Unabhängigkeit der Justiz.
Dem widerspricht Parlamentspräsident Artschil Talakwadse. Der F.A.Z. sagte er, Georgien habe „unter Herrn Iwanischwilis Führung beeindruckende Reformen“ gemacht“, werde von starken und demokratischen Institutionen regiert. „Wer wird argumentieren, dass ein Mann das allein kann?“ Die Umfrageergebnisse klaffen enorm auseinander, doch der „Georgische Traum“ wird wohl stärkste Kraft. Die Partei hat im Wahlkampf mit rund drei Millionen Dollar 45 Prozent aller Spenden erhalten und fast die Hälfte aller Wahlwerbung geschaltet. Sollte es nicht für eine Mehrheit reichen, dürfte Iwanischwili die Stimmen zum Machterhalt von kleinen Parteien erhandeln. Es gibt Dutzende, unter ihnen die kremlnahe „Allianz der Patrioten“.
Dank der Wahlrechtsreform von 2016 ist aus der Fünfprozenthürde eine Einprozenthürde geworden. Vor vier Jahren wurden 77 der 150 Parlamentssitze nach Verhältniswahlrecht vergeben, der Rest per Mehrheitswahlrecht. Die Folge war ein drückendes Übergewicht des „Georgischen Traums“, gegen das sich 2019 die Proteste richteten. Zur Beruhigung versprach Iwanischwili ein für 2024 vorgesehenes reines Verhältniswahlrecht schon für 2020. Aber seine Partei stellte sich vor einem Jahr nicht hinter das Versprechen, wonach neue Proteste entflammten. Im Frühjahr kam ein international vermittelter Kompromiss zustande. Nun werden 120 Abgeordnete nach Verhältniswahlrecht gewählt, 30 direkt.
Spaltung von Saakaschwilis Partei
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte nach der Präsidentenwahl 2018, die eine vom „Georgischen Traum“ unterstützte Kandidatin gewann, Schritte gegen den Missbrauch administrativer Ressourcen zugunsten der Regierung angemahnt. „Wir haben die Vorschriften strenger und effektiver gestaltet“, sagte Parlamentspräsident Talakwadse der F.A.Z. Doch „Transparency International“ kritisiert in einem jüngsten Bericht wieder Agitation durch Staatsbedienstete. Die Organisation kritisiert das Innenministerium, das angeblich nur in wenigen Fällen von Gewalt gegen politische Parteien ermittelt. Stattdessen versuche die Staatsanwaltschaft, die Hauptoppositionspartei der „Vereinte Nationale Bewegung“ (UNM) zu diskreditieren.
Zur politischen Misere gehört, dass auch diese auf einen starken Mann setzt, der nicht auf den Kandidatenlisten steht: den früheren Präsidenten Micheil Saakaschwili. Viele Georgier halten ihm weiter Erfolge im Kampf gegen Alltagskorruption in der Frühzeit seiner Präsidentschaft nach der „Rosenrevolution“ 2003 zugute. Sehr viele erinnern sich vor allem an den erratischen, autoritären Saakaschwili späterer Jahre. Bald nach Ende seiner Amtszeit als Präsident verließ Saakaschwili Georgien, wo er mittlerweile zu zwei Haftstrafen verurteilt worden ist; er spricht von politischer Verfolgung. Derzeit lebt Saakaschwili in der Ukraine und hat die georgische Staatsangehörigkeit verloren. Er müsste sie wiederbekommen, um Ministerpräsident zu werden.
Ob es dazu kommt, ist zweifelhaft. In seiner Heimat polarisiert der emotionale Politiker weiter. Auch mit Massenveranstaltungen trotz Pandemie. Am 17. Oktober hielten Saakaschwilis Leute eine von Tausenden besuchte Veranstaltung in Batumi am Schwarzen Meer ab. Maskenträger waren in der Minderheit, soziale Distanz gab es nicht. Saakaschwili schickt zu solchen Gelegenheiten Videobotschaften aus der Ukraine, sagt etwa, das wichtigste „Virus“, das Georgien bedrohe, sei „der russische Oligarch, das böse Scheusal Bidsina Iwanischwili und seine korrupte Clique“. Der UNM droht wie 2016 die Wahlniederlage, als sie schon einmal den abwesenden Saakaschwili auf den Schild gehoben hatte. Das führte im Jahr darauf zur Spaltung der UNM und der Gründung der laut Umfragen drittstärksten Kraft des Landes, „Europäisches Georgien“. Sie lehnt ein Zusammengehen mit Saakaschwili strikt ab und hält, epidemiologisch korrekt, Autokorsos gegen Iwanischwili ab.