
Türkische Syrienpolitik : Milchpulver und Mullbinden
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Der Bürgerkrieg vor ihrer Haustür stellt die außenpolitischen Ambitionen der Regionalmacht Türkei auf eine harte Probe. Was im Nachbarland geschieht, betreffe niemanden so direkt wie den Staat mit der längsten Landgrenze zu Syrien, so hat es die Regierung in Ankara in den Tagen und Wochen vor der Konferenz der „Freunde Syriens“ in Tunis immer wieder deutlich gemacht.
Nach einem Bericht des Ausschusses für Flüchtlinge, Asylanten und illegale Einwanderer des türkischen Parlaments haben zwischenzeitlich etwa 20.000 Zivilisten aus Syrien in der türkischen Grenzprovinz Hatay (die einst Teil Syriens war) Zuflucht gesucht. Gut die Hälfte ist inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, trotz der Kämpfe. Die Versorgung der verbliebenen 10.000 Flüchtlinge stellt die Türkei nicht vor unlösbare Schwierigkeiten. Sollten aus den Zehntausenden aber Hunderttausende werden, was gerade auch nach einem Sturz Assads der Fall sein könnte, wäre das nicht mehr sicher.
Auffällig sind die vielen Parallelen zum Bosnien-Krieg, die in Ankara gezogen werden. Die Stichworte „Sarajevo“, „Srebrenica“ und „Milošević“ fallen oft, wenn von Assad und Syrien die Rede ist. Außenminister Ahmet Davutoglu gab den Ton vor, als er in einer Rede vor Studenten der George-Washington-Universität zu rechtfertigen versuchte, warum Ankara den Diktator im Nachbarland so lange gestützt hat: „Ja, wir hatten neun Jahre lang gute Beziehungen mit Syrien, aber da kämpfte Assad noch nicht gegen sein eigenes Volk. Im vergangenen Jahr wollten wir, dass Assad Syriens Gorbatschow wird, aber er zog es vor, Syriens Milošević zu sein.“
Diskussionen der neunziger Jahre
Vieles an der türkischen Debatte des Jahres 2012 erinnert an Diskussionen, die der Westen schon in den neunziger Jahren führte. Von entmilitarisierten Pufferzonen, von Schutz- oder Flugverbotszonen im Grenzgebiet zu Syrien ist die Rede. Gäbe es erst eine sichere Pufferzone, sei ein massenhaftes Überlaufen von Deserteuren aus Assads Streitkräften zu erwarten, sagen die Befürworter solcher Ideen. Indirekt bestätigte Davutoglu eine solche Hoffnung, als er vor kurzem sagte, schon 40.000 Soldaten seien Assad abtrünnig geworden. Ein Sprecher des türkischen Außenamts wiegelte dann aber ab: Eine Pufferzone, die ja militärisch gesichert werde müsste, stehe „im Moment“ nicht auf der Tagesordnung. Man sei aber auf jede mögliche Entwicklung vorbereitet.
Hinter der türkischen Vorsicht steckt auch die Befürchtung, der türkisch-iranische Gegensatz in Syrien könne sich zu einem Stellvertreterkrieg auswachsen, der nicht auf das Nachbarland beschränkt bleiben müsste. Bis zum Ausbruch der Proteste gegen Assad war es der Türkei auf friedliche Weise immer besser gelungen, dem Einfluss Irans in Syrien durch den steten Ausbau wirtschaftlicher Kontakte etwas Überzeugendes entgegenzusetzen.
Ein türkisch-syrisches Freihandelsabkommen trat 2007 in Kraft, zwei Jahre später hoben beide Staaten gegenseitig die Visumpflicht für ihre Bürger auf. Teheran musste es geschehen lassen. Nun sind die Karten neu gemischt, und Iran scheint das schlechtere Blatt zu haben. Fiele das Regime und gelänge der Übergang zu stabilen, halbwegs demokratischen Verhältnissen, wäre die Türkei der große Gewinner. Das will Iran verhindern, der Einsatz ist hoch.