Türkei : Die Angst der Aleviten
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Unter den Protestierenden in der Türkei sind viele Aleviten. Sie sehen sich von Erdogan und seiner AKP zunehmend unter Druck gesetzt und fürchten neue Diskriminierung - oder sogar Schlimmeres. Bild: Reuters
Die Proteste gegen Erdogan richten sich auch gegen die sunnitische Hegemonie in der Türkei. Die Aleviten, die wie die Alawiten in Syrien als Schiiten gelten, fürchten neue Verfolgung.
Unter den Demonstranten, die in Istanbul gegen die Bebauung des Gezi-Parks mit einem Einkaufszentrum und gegen den zunehmend autoritär regierenden Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan protestieren, stehen die Aleviten ganz vorne. Sie sind die einzige große gesellschaftliche Gruppe, die Erdogan und seine AKP nie für sich haben gewinnen können.
In den vergangenen Monaten hat das Misstrauen der Aleviten gegen den Sunniten Erdogan neue Nahrung erhalten. Denn Erdogan unterstützt in Syrien die bewaffneten sunnitischen Rebellen, die die dortigen Alawiten bekämpfen. Die türkischen Aleviten und die syrischen Alawiten tragen ähnliche Namen, und beide gelten als Schiiten. Sie teilen eine starke Verehrung, fast schon Vergöttlichung Alis, des Schwiegersohns Muhammads. In der Geschichte haben Sunniten beide als Häretiker oder gar als Ungläubige verfolgt.
Furcht vor neuer Verfolgung
Eine Furcht macht sich unter den Aleviten breit, dass wieder eine Verfolgung einsetzen könnte, wie sie im Osmanischen Reich an der Tagesordnung war. Solche Befürchtungen bekamen Auftrieb, als Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Erdogan am 29. Mai, dem Jahrestag der osmanischen Eroberung von Konstantinopel, den Grundstein für die dritte Brücke über den Bosporus legten und deren künftigen Namen bekanntgaben. Nachdem die zweite Brücke nach Mehmet Fatih benannt ist, dem Eroberer Istanbuls, soll die dritte Brücke den Namen von Yavuz Selim tragen, der von 1512 bis 1520 als Sultankalif geherrscht hatte. Selim, mit dem Beinamen Yavuz („Der Gestrenge“, aber auch „der Grausame“), hatte 1517 das Kalifat von Kairo nach Istanbul gebracht. Seine wichtigsten Kriege führte er aber im Osten gegen die neue Herrschaft der Safawiden. Dabei ging er als der größte Schlächter der Aleviten in die Geschichte ein. Yavuz Selim gelte den Aleviten als ein Symbol für ihre Auslöschung, kritisierte beispielsweise Rüstem Gümüs, der Sprecher der Aleviten in Kayseri. Für die Brücke hatte es andere Namensvorschläge gegeben, etwa Rumi, ein von allen türkischen Muslimen verehrter Mystiker.
Verschiedene Traditionslinien
Die Alawiten und die Aleviten sind aus verschiedenen Traditionslinien entstanden. Die syrischen Alawiten gehen auf Muhammad Bin Nusair zurück, einen angeblichen Empfänger geheimer Offenbarungen des elften Imams der Schiiten. Sie haben daher eine Tradition, die im Südirak ihren Ursprung hat. Die Religion der türkischen Aleviten entstand hingegen, als türkische Stämme aus Zentralasien nach Anatolien zogen. Wanderderwische, die den Islam mystisch auslegten und Ali verehrten, islamisierten die nomadisierenden Turkstämme.
Die Mystik kam der einfachen Bevölkerung mehr entgegen als die Schriftgläubigkeit des orthodoxen sunnitischen Islams. In Anatolien entstand so eine Religion, die sich aus Elementen des schamanistischen Glaubens der Türken in Zentralasien, des Islams und gnostischer Einflüsse zusammensetzt. Politisch unterstanden sie dem Sultan der sunnitischen Osmanen, sie verehrten aber auch die Scheichs der Safawiden in Ardabil, dem heutigen Iran. Deren Religion hatte sich ursprünglich nur wenig von jener der Aleviten unterschieden.
Befreiung durch Atatürk
Als Scheich Ismail 1501 in Ardabil die Schia zur Staatsreligion ausrief, galten die Aleviten als fünfte Kolonne der Safawiden und wurden gnadenlos verfolgt. Am brutalsten ging Yavuz Selim gegen sie vor. Aleviten sagen, er habe 70.000 Aleviten töten lassen, Sunniten halten diese Zahl für übertrieben. Überlebt haben die Aleviten, die heute ein Fünftel der türkischen Bevölkerung stellen, in entlegenen Gebieten Anatoliens. Atatürk befreite sie aus der Unterdrückung, die Diskriminierung der Aleviten endete aber auch in der Republik nicht. Denn neben der Religion ist die politische Polarisierung ein weiterer Grund für das Misstrauen: Während die Sunniten mehrheitlich konservativ und nationalistisch sind, stellen die Aleviten traditionell die türkische Linke; Aleviten sind außerdem das Rückgrat aller linksextremen Gruppen. In den Offiziersrängen der Armee gibt es kaum Aleviten, und im zivilen Staatsdienst sind sie ebenfalls kaum in führenden Positionen vertreten.
Mit den Steuergeldern der Aleviten baut der Staat in deren Gemeinden sunnitische Moscheen, alevitische Schüler müssen den sunnitischen Pflicht-Religionsunterricht besuchen. Massaker und Pogrome gegen die Aleviten lassen sich bis zurück ins 15. Jahrhundert nachweisen. 1416 hatte der Freidenker, Sufi und Rebell Bedreddin eine Rebellion angeführt, für die er vier Jahre später hingerichtet wurde. In den vergangenen Jahrzehnten gab es von Sunniten verübte Massaker gegen die Aleviten in den Städten Malatya (1977), Kahramanmaras (1978), Corum (1980), Sivas (1993) und dem Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpasa (1995). Bei dieser Geschichte ist es verständlich, dass die Aleviten nicht nur nervös auf die Einmischung des türkischen Ministerpräsidenten in den syrischen Bürgerkrieg reagieren, sondern auch im Namen der dritten Bosporusbrücke eine neue Kampfansage vermuten.