Nach Wahl in Belarus : Bluten für Lukaschenka
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Minsk: Demonstranten laufen vor der Polizei weg. Bild: dpa
Um an der Macht zu bleiben, lässt der Dauerpräsident von Belarus seine Sicherheitskräfte hart gegen Demonstranten vorgehen. Es gibt viele Verletzte. Die Proteste haben das ganze Land erfasst.
Vor den belarussischen Präsidentenwahlen hatte Daueramtsinhaber Alexandr Lukaschenka sein Staatsfernsehen zeigen lassen, wie seine Sicherheitskräfte trainieren, Proteste aufzulösen. Das sollte, zusammen mit ständigen Ankündigungen harten Vorgehens, von der Teilnahme an Demonstrationen gegen Wahlfälschungen abschrecken. Ohne Erfolg: Am Sonntagabend gingen Tausende, womöglich Zehntausende gegen die sich abzeichnenden neuerlichen Wahlfälschungen auf die Straßen.
Nicht nur in der Hauptstadt Minsk, wo das Regime schon vor zehn Jahren solche Proteste niederschlagen ließ und danach die wichtigsten Gegner Lukaschenkas zu jahrelanger Haft wegen „Massenunruhen“ verurteilte. Sondern auch in vielen weiteren Städten des Landes wie in Pinsk, Witebsk, Brest. Das spiegelt wider, dass Lukaschenkas Macht in den 26 Jahren, die er Belarus beherrscht, noch nie so in Frage gestellt worden ist wie in diesem Sommer, dass ihn viele Belarussen „satt“ haben, wie es im Wahlkampf oft hieß, als seine wichtigste Herausforderin, Swetlana Tichanowskaja, bei Auftritten Zigtausende mit Rufen nach Wandel, Würde und fairen Neuwahlen begeisterte.
Dutzende Verletzte allein in Minsk
Die Bilanz der Nacht nach den Wahlen ist noch unvollständig, doch Bilder und Berichte aus Belarus offenbaren, dass Lukaschenkas Omon-Sondereinsatzkräfte ihr ganzes Arsenal gegen die Bürger des Landes einsetzten: Wasserwerfer, Hartgummigeschosse, Lärm- und Blendgranaten, Tränengas, Elektroschocker, Schlagstöcke. Aus den Reihen der Demonstranten wurden Flaschen, Feuerwerkskörper und Steine auf die Einsatzkräfte geschleudert.
Allein in Minsk wurden Dutzende Personen durch die Einsatzkräfte verletzt; die Fotos zeigen offene Wunden und blutige Gesichter. Nach unbestätigten Berichten wurde ein junger Demonstrant getötet. Mindestens ein Mann wurde von einem Arrestbus umgefahren und verletzt. Die Demonstranten skandierten „Es ist unser Land“, „Es lebe Belarus“ oder „Geh weg“ an die Adresse Lukaschenkas.
Während der Nacht schwieg das Regime, von Lukaschenka kam nichts. Auch dessen Behörden hielten sich zurück mit offiziellen Angaben. Die Menschenrechtsschützer von „Wjasna“ (Frühling) zählten 126 Festnahmen in ganz Belarus, davon 55 in Minsk. Tichanowskaja wandte sich in der Nacht an ihre Unterstützer und die Sicherheitskräfte und rief, wie schon in den Tagen zuvor, dazu auf, keine Gewalt auszuüben und zuzulassen: Polizei und Truppen seien „Teil des Volkes“, sagte Tichanowskaja. Ihre Wähler bat sie, keinen Grund dafür zu geben, „gegen uns Gewalt anzuwenden“.
Alternative Zählung sieht Tichanowskaja als Siegerin
Die Staatsnachrichtenagentur Belta teilte am Montagmorgen unter Berufung auf das Innenministerium mit, die Polizei habe die Kontrolle über die Situation „bei unerlaubten Massenveranstaltungen“ übernommen. Das Ermittlungskomitee leitete – wie 2010 – am Montagmorgen ein Verfahren wegen „Massenunruhen“ ein und teilte mit, Dutzende Polizisten seien verletzt worden. Mehr als hundert Ermittler seien mit dem Fall befasst. Ordnungsstörern, die Müllcontainer, Bänke, Steine, Platten, Flaschen, Feuerwerkskörper und heiße Flüssigkeiten als Waffen verwendet hätten, drohten acht bis 15 Jahre Haft, hieß es dazu. Erst an diesem Montag sollen auch vorläufige Ergebnisse der Präsidentenwahlen veröffentlicht werden.
Alles entzündete sich an den offiziellen Nachwahlbefragungen, die Lukaschenka rund 80 Prozent zuordneten, Tichanowskaja nur rund sieben bis acht. Die Opposition geht davon aus, dass die Ergebnisse fiktiv sind, „gezeichnet“. An diesem Montagmorgen veröffentlichte die von einer Getreuen Lukaschenkas geführte Wahlkommission vorläufige Ergebnisse, die Lukaschenka gut achtzig, Tichanowskaja 9,9 Prozent zuschreiben. Das Ergebnis für Lukaschenka entspricht dem vergangener Wahlen und überdies seiner eigenen Ankündigung kurz vor dieser Wahl, als er sagte, gut zwanzig Prozent der Wähler hätten nie für ihn gestimmt.
Das zivilgesellschaftliche, von Tichanowskaja unterstützte Projekt „Golos“ (Stimme), das mit eingesandten Fotos von Stimmzetteln eine alternative Stimmauszählung anstrebte, teilte mit, mehr als 80 Prozent der registrierten Nutzer hätten für Tichanowskaja gestimmt. Eine Initiative namens „Exit Poll Abroad“ befragte Belarussen an Auslandswahllokalen in 24 Ländern: Hier kam Tichanowskaja auf knapp 85 Prozent, Lukaschenka auf unter fünf Prozent.
Fotos von Protokollen aus Wahllokalen in Belarus selbst wurden verbreitet, in denen Tichanowskaja teils mit großem Abstand vor Lukaschenka gewinnt. Der Stab der Kandidatin zählte zwanzig solcher Wahllokale in Minsk und Umgebung, in denen Tichanowskaja vorne lag.
Doch die Intransparenz des Wahlsystems führt dazu, dass die Definitionshoheit über das Ergebnis bei der Wahlkommission liegt, deren Leiterin schon auf Grundlage der Nachwahlbefragungen alle aufforderte, dem „Sieger“ zu gratulieren. „Was geschieht, ist schlimm“, sagte Tichanowskaja dazu bei einer Pressekonferenz am Sonntagabend in Minsk, bevor die Zusammenstöße begannen. „Ich glaube meinen Augen, und ich sehe dass die Mehrheit mit uns ist.“