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Nach Ryanair-Vorfall : Entzieht Europa Belarus die Landerechte?

Das Ryanair-Flugzeug nach der erzwungenen Landung in Minsk. Bild: EPA

Am Abend beraten die Staats- und Regierungschefs in Brüssel über Konsequenzen. Mehrere Regierungen fordern bereits eine entschlossene Reaktion Europas, die Machthaber Lukaschenko auch wirtschaftlich trifft.

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          In der gemeinsamen Außenpolitik der Europäischen Union geht es oft nur zäh und zeitraubend voran. Doch manchmal können die Staaten auch schnell und entschlossen handeln. Das bahnte sich am Montag in Sachen Belarus an. Schon bevor sich die Staats- und Regierungschefs am Abend in Brüssel trafen, machten die Spitzen der Union klar, dass die erzwungene Landung eines Ryanair-Flugzeugs in Minsk und die Festnahme eines Oppositionspolitikers am Sonntag rasch Konsequenzen nach sich ziehen würde.

          Peter Carstens
          Politischer Korrespondent in Berlin
          Thomas Gutschker
          Politischer Korrespondent für die Europäische Union, die Nato und die Benelux-Länder mit Sitz in Brüssel.

          Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem „ungeheuerlichen und illegalen Verhalten des Regimes in Belarus“. „Die Verantwortlichen der Ryanair-Entführung müssen sanktioniert werden“, schrieb sie am Sonntagabend auf Twitter. Ratspräsident Charles Michel teilte mit, dieser „präzedenzlose Vorfall“ werde „nicht ohne Konsequenzen bleiben“. Beide Politiker forderten die sofortige Freilassung des festgenommenen Journalisten Roman Protassewitsch.

          Der Außenbeauftragte Josep Borrell konnte schon am Montagmorgen eine Erklärung im Namen aller Mitgliedstaaten abgeben, auch das in rekordverdächtigem Tempo. Es handele sich um „einen weiteren eklatanten Versuch der belarussischen Behörden, alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen“, hieß es darin. Notwendig sei eine internationale Untersuchung des Vorfalls, bei dem Belarus die Sicherheit von Passagieren und Besatzung des Flugzeugs gefährdet habe.

          Erwogen wurden vor dem Treffen des Europäischen Rats nicht nur Sanktionen gegen einzelne Personen oder Behörden des Regimes, sondern weitergehende Maßnahmen. Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics brachte neben Wirtschaftssanktionen und einer Sperrung des belarussischen Luftraums für internationale Flüge auch ein Landeverbot für Flüge von belarussischen Fluglinien ins Gespräch. Eine Quelle bestätigte der F.A.Z., dass ein Entzug von Landerechten zu den Optionen gehöre, über welche die Regierungschefs beraten würden. Eine solche Maßnahme ließe sich schnell umsetzen, während Sanktionen gegen Einzelpersonen ein langwieriges Verfahren erfordern.

          In Berlin bestellte Außenminister Heiko Maas (SPD) den belarussischen Botschafter für Montagabend ins
          Auswärtige Amt ein. Die bisherigen Erklärungen der belarussischen Regierung für die erzwungene Landung seien „abwegig und nicht glaubwürdig“, wurde Maas in einer Mitteilung zitiert. „Wir brauchen Klarheit, was sich gestern wirklich an Bord und am Boden zugetragen hat.“

          Die französische Regierung forderte ein „Verbot des belarussischen Luftraums“. Dieser Schritt sei eine Sicherheits- und Sanktionsmaßnahme, sagte Europa-Staatssekretär Clément Beaune am Montag im Sender BFM/RMC. Darüber solle auf europäischer und internationaler Ebene debattiert werden. „Das ist eine Handlung staatlicher Piraterie, die nicht unbestraft bleiben kann“, sagte Beaune zu der erzwungenen Umleitung eines Ryanair-Flugzeugs am Sonntag, das auf dem Weg von Athen nach Vilnius war. 

          Bild: Flightradar24

          Auch Irland reagierte mit scharfer Kritik auf den Vorfall vom Sonntag. „Das war effektiv Luftfahrt-Piraterie im Staatsauftrag“, sagte der irische Außenminister Simon Coveney dem Radiosender RTE. Der Chef der irischen Fluggesellschaft Ryanair, Michael O'Leary, sprach von einer „Flugzeugentführung im  Staatsauftrag“. Es sehe so aus, „als ob die Behörden die Absicht hatten, einen Journalisten und eine mitreisende Begleitperson herauszunehmen", sagte er dem Radiosender Newstalk.

          Zudem habe er die Vermutung, dass Mitarbeiter des belarussischen Geheimdienstes an Bord waren. „Wir glauben, dass auch einige KGB-Agenten auf dem Flughafen von Bord gegangen sind“, sagte O’Leary. Ähnlich äußerte sich Irlands Außenminister Coveney. „Fünf oder sechs Personen verließen das Flugzeug", sagte er. „Nur eine davon wurde festgenommen, was darauf hindeutet, dass die anderen Geheimdienstmitarbeiter waren."

          Neben Ryanair will auch die lettische Fluggesellschaft Air Baltic bis auf Weiteres den belarussischen Luftraum meiden. Das Unternehmen habe beschlossen, den belarussischen Luftraum nicht zu durchqueren, bis die Situation klarer werde oder die Behörden eine Entscheidung träfen, teilte eine Sprecherin des Unternehmens in Riga mit. Air Baltic ist die größte Fluglinie in den baltischen Staaten.

          Die lettische Luftfahrtbehörde will bald eine Empfehlung abgeben

          Nach Angaben von Verkehrsminister Talis Linkaits wird die lettische Behörde für zivile Luftfahrtbehörde in Kürze eine Empfehlung abgeben. „Es ist klar, dass die Situation im Prinzip inakzeptabel ist, wenn ein Land entscheiden kann, ob es den einen oder anderen Passagier im Flugzeug mag oder nicht mag“, sagte er im lettischen Radio. Der Vorfall im Nachbarland werde nicht ohne Konsequenzen bleiben.

          Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), verfasste gemeinsam mit Kollegen aus mehreren Parlamenten, darunter dem amerikanischen Senat, dem britischen Unterhaus und den Parlamenten in Litauen, Lettland sowie Polen und Irland eine Erklärung, in der die Nato und die EU zu Sanktionen gegen Belarus aufgefordert werden. „Tyrannei hat keinen Platz in Belarus oder Europa“, heißt es darin. Röttgen und seine Kollegen forderten eine „sofortige Untersuchung durch die Internationale Zivilluftfahrtorganisation“. Bis ein Ergebnis vorliege, müssten Überflüge verboten und Flugverkehr von nach untersagt werden.

          Der FDP-Außenpolitiker Alexander Lambsdorff sagte, es handele sich um eine Flugzeugentführung, Lukaschenko sei somit ein „internationaler Krimineller, der mit Haftbefehl belegt werden muss“. Ein Landeverbot für Belarus in der EU müsse folgen. Der frühere Grünen-Politiker und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, sprach von „Gangstermethoden“ und forderte ebenfalls Konsequenzen.

          Katja Leikert spricht von „Staatsterrorismus“

          Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagfraktion, Katja Leikert, sprach von „Staatsterrorismus“. In einer Erklärung zu der Kaperung sagte sie, Lukaschenko habe „mit der kriminellen Entführung einer Ryanair-Passagierflugzeugmaschine bewiesen, dass er in seinem Klammern an der Macht in Belarus jegliches Maß verloren hat. Die illegale Verhaftung des oppositionellen Aktivisten und Journalisten Roman Protasewitsch ist ein Fanal für Lukaschenkos Skrupellosigkeit.“

          Die Politikerin forderte im Namen der Unionsfraktion: „Die Europäische Union muss eine deutliche rote Linie ziehen. Die Fraktion begrüßt die schnelle Aufnahme der Entführung des Flugzeugs in den heutigen Europäischen Rat. Nun müssen Taten folgen, die die Urheber dieses kriminellen Akts unmittelbar treffen. Persönliche und umfassende Sanktionen gegen Lukaschenko und sein Umfeld, zielgerichtete Beschränkung der finanziellen Spielräume für regimenahe Wirtschaftsleute und Unternehmen und ein europaweites Landeverbot für die nationale belarussische Fluggesellschaft Belavia sind mehr als angemessen, um diesen Bruch zivilisatorischer Regeln zu ahnden."

          Auch der SPD-Außenpolitiker Michael Roth bezeichnete den Akt als „Staatsterrorismus“ und nannte das Vorgehen der belarussischen Behörden „vollkommen inakzeptabel“. Protasewitsch und alle anderen politischen Gefangenen müssten sofort entlassen werden; eine gemeinsame, starke Antwort des Europäer sei nötig, schrieb der Staatsminister im Auswärtigen Amt auf seinem privaten Twitter-Account. Der SPD-Kanzlerkandidat, Olaf Scholz hatte bereits unmittelbar nach den Ereignissen Konsequenzen für Belarus und die sofortige Freilassung der festgesetzten Bloggers gefordert.

          In der Linkspartei verweist man auf Evo Morales

          Wesentlich zurückhaltender äußerte sich die Linke-Fraktion. Der stellvertretende Vorsitzende Andrej Hunko schlug vor, den Vorgang „deutlich zu verurteilen“, falls er sich bestätige. Diese „Luftpiraterie“ ist allerdings nicht präzedenzlos, so Hunko und verwies auf einen erzwungene Landung eines Flugzeugs mit dem damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien, der verdächtigt wurde, in dem Präsidentenflugzeug den Whistleblower Edward Snowden zu transportieren.

          In Brüssel wird derweil schon seit längerer Zeit an einem vierten Paket mit Reise- und Kontosperren gegen Vertreter des Regimes Lukaschenko gearbeitet. Es soll das Größte und Umfassendste werden, allerdings beugen sich die zuständigen Arbeitsgruppen im Rat immer noch über die Liste. Je tiefer man in die Strukturen eindringe, desto mehr Zeit brauche man, um Verantwortliche zu identifizieren und dies zu belegen, hieß es zuletzt aus dem von Borrell geleiteten Europäischen Auswärtigen Dienst.

          Seit Oktober haben die Mitgliedstaaten in drei Schritten Sanktionen verhängt, darunter auch gegen den Machthaber selbst sowie gegen dessen ältesten Sohn Wiktor, den nationalen Sicherheitsberater. Zu den Betroffenen zählen weitere Personen der politischen Führung und der Regierung, hohe Beamte des Innenministeriums und seiner Truppen, die Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung, der Generalstaatsanwalt, mehrere Richterinnen und Richter, der Präsident der staatlichen Rundfunkanstalt sowie mehrere wichtige Wirtschaftsakteure. Insgesamt stehen 88 Personen und sieben Organisationen auf der bisherigen Sanktionsliste.

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