Debatte um tote Migranten : Seine Freunde nannten ihn Anwar
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Migranten am Grenzzaun von Melilla im Juni 2022 Bild: AP
Spaniens Regierung bestreitet, dass es bei dem Ansturm auf den Grenzzauns von Melilla im Juni auch auf ihrer Seite Tote gab. Neue Recherchen legen das aber nahe.
Der schwere Vorwurf hat ein Gesicht. Abdelaaziz Yaakoub, den seine Freunde Anwar nannten, kam aus Sudan. Sein Weg nach Europa endete am spanischen Grenzzaun von Melilla. Der 27 Jahre alte Sudanese ist einer der 23 Migranten, die am 24. Juni ums Leben kamen, als sie versuchten, von Marokko aus die Absperrungen um die spanische Exklave zu überwinden. Die spanische Zeitung „El País“ und weitere europäische Medien haben den Vorfall detailliert rekonstruiert und mit mehr als 40 Augenzeugen gesprochen. Anfang November erhob der britische Sender BBC schon ähnliche Anschuldigungen.
Die neuen Einzelheiten erhöhen den Druck auf den spanischen Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Vor dem Parlament hatte dieser in der vergangenen Woche bekräftigt, es habe „auf spanischem Gebiet keine Todesopfer“ gegeben. Die Polizei habe „verhältnismäßig und korrekt“ reagiert. Doch selbst in seiner eigenen Koalition wachsen beim Juniorpartner Podemos die Zweifel an seiner Darstellung.
Wie Menschenrechtler berichten, werden auch fünf Monate nach den Gewaltexzessen an der Grenze immer noch 77 Migranten vermisst. Sie befürchten daher also deutlich mehr als die 23 Toten, von denen offiziell noch immer die Rede ist. Von dem jungen Sudanesen Anwar gibt es Aufnahmen, die zeigen, wie er leblos auf der von Spanien kontrollierten Seite der Abfertigungsanlage liegt; dort waren an diesem Morgen auch marokkanische Sicherheitskräfte im Einsatz.
„Du bist ein Tier, Du musst sterben“
„Er wurde direkt vor meinen Augen getötet. Es gab starken Tränengas-Beschuss. Dann schlug ihm ein marokkanischer Soldat auf den Hinterkopf. Ein weiterer Soldat sprang mit seinen Stiefeln auf seine Brust. Als sie merkten, dass er tot war, sammelten sie Müll ein und deckten ihn damit zu“, sagt in der El País-Recherche, an der auch der „Spiegel“ beteiligt war, ein Augenzeuge, der Ibrahim genannt wird. Die marokkanische Menschrechtsorganisation AMDH habe drei weitere Zeugen für den Tod Anwars.
Der arbeitslose Mechaniker hatte sich 2021 zunächst auf den Weg nach Libyen gemacht, von wo aus er vergeblich versuchte, nach Italien zu gelangen. Er reiste nach Algerien weiter. Dort wurde er nach Niger abgeschoben. Von Marokko aus, hoffte er, es endlich nach Europa zu schaffen, um Geld für die Pflege seiner schwerkranken Mutter zu verdienen. Ein weiterer Sudanese berichtet in der Rekonstruktion von einem zweiten Mann, der in der Massenpanik auf der spanischen Seite des Grenztors niedergetrampelt wurde, das die Migranten gewaltsam geöffnet hatten. Beamte der spanischen Guardia Civil beobachten auf Luftaufnahmen aus der Nähe das harte Vorgehen der marokkanischen Beamten, die laut der jüngsten Recherche mindestens zwanzig Behälter mit Tränengas einsetzen. Das trug zu der Massenpanik in dem eingezäunten Areal vor dem Tor bei. Gefesselt lagen verletzte Migranten später stundenlang in der Sonne, ohne dass ihnen geholfen wurde, obwohl Ambulanzfahrzeuge bereit standen. „Du bist ein Tier, Du musst sterben,“ habe ein marokkanischer Polizist gesagt, wie sich ein Mann aus Darfur erinnert.
Die marokkanische Regierung schweigt zu den schweren Vorwürfen und verweist allenfalls auf die Gewalt, die die Migranten anwendeten. Das hob jetzt auch der spanische Innenminister hervor, laut dem sie mit Knüppeln und Macheten bewaffnet gewesen seien. Mit Blick auf mögliche Tote auf spanischer Seite sprach Innenminister Grande-Marlaska „von tragischen Vorfällen außerhalb unserer Landesgrenzen“. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats kritisierte unterdessen die „Pushbacks“ in Melilla. Die spanischen Polizisten werden beschuldigt, sie hätten 470 Migranten sofort wieder zurückgeschickt, ohne dass sie um Asyl bitten konnten. Diese Zahl geht aus einem Bericht des Ombudsmanns des spanischen Parlaments hervor.