Migrantenstrom nach Litauen : „Das ist ein europäisches Problem“
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Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte mit dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel an der litauisch-belarussischen Grenze am Dienstag Bild: Reuters
Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte im Interview über den Zustrom Hunderter Migranten aus Belarus, das Zauberwort „Asyl“ und die Sorge über belarussische und russische Atomkraftwerke.
Frau Ministerpräsidentin, Sie haben gerade mit EU-Ratschef Charles Michel die Grenze zu Belarus inspiziert. Bis Dienstag Morgen wurden dort in diesem Jahr schon 1363 Migranten aufgegriffen, die illegal über Belarus gekommen sind. Zuletzt waren es mehr als hundert am Tag. Wo wollen diese Menschen hin?
Ihr Endziel ist nicht Litauen. Sehr viele von ihnen haben keine Pässe bei sich. Die Pässe haben sie bereits in ihre Zielländer vorausgeschickt, höchstwahrscheinlich Deutschland, Schweden und einige andere. Das ist also ein europäisches Problem. Wir müssen – auch auf europäischer Ebene – mit den Herkunftsländern sprechen. Zum Beispiel mit Irak und afrikanischen Ländern. Auch mit der Türkei, weil viele Migranten über den Flughafen Istanbul nach Belarus kommen. Die beste Antwort wäre, zu zeigen, dass eine Rückführung der Migranten geschieht. Zumal schon jetzt ziemlich klar ist, dass nur ein sehr kleiner Anteil der Migranten beweisen kann, dass er politisch verfolgt wurde. Anders als bei Hunderten Belarussen, die zu uns geflohen sind.
Dennoch bitten viele der Migranten in Litauen um Asyl.
Ja, sie betreten unser Land und sagen das Zauberwort „Asyl“. Ich habe gefordert, die Asylverfahren auf zehn Tage zu verkürzen. Wenn das Parlament über ein solches Gesetz entscheidet, kann das theoretisch im Laufe eines Tages passieren.
Offenbar kommen nicht nur Migranten von weit her, sondern auch ausländische Studenten aus Belarus?
Ja, Belarus lässt afrikanische Studenten bei sich studieren und verdient damit gutes Geld. Einige dieser jungen Leute haben vielleicht den Plan im Hinterkopf, auf diese Weise der EU näher zu kommen. Unser Grenzschutz hat solche Informationen. Und noch etwas Neues bekommen wir zu hören: dass Belarus plötzlich die Studiengebühren erhöht hat, sie das nicht mehr bezahlen können und deshalb das Land verlassen müssen. Aber dann verstehe ich immer noch nicht, warum sie ihre Pässe nicht dabei haben.
Nur etwa ein Drittel der Grenze zu Belarus ist mit Kameras oder Zäunen gesichert. Was können Sie jetzt tun?
Wir wollten diese Grenze bis zum Jahr 2024 mit Technik ausgerüstet haben. In der jetzigen Lage, denke ich, können wir das in der zweiten Jahreshälfte 2022 schaffen. Wir werden dafür zusätzlich gut vierzig Millionen Euro aufwenden müssen, die Hälfte in diesem Jahr, den Rest 2022. Vor allem aber muss eine Botschaft hinausgehen, die besagt: Wer hier illegal einreist, wird zurückgeschickt werden, es sei denn, er ist politisch verfolgt.
Allgemein gefragt: Haben Sie in den vergangenen Jahren an einen Mechanismus zur Umverteilung von Migranten innerhalb der EU geglaubt? Glauben Sie heute an eine solche Möglichkeit, sollte der Zustrom von Menschen anhalten?
Umverteilung wäre eine Lösung, aber immer nur eine vorübergehende. Das würde jedenfalls nicht den Anreiz für die Migranten senken. Und außerdem wissen wir ja, dass Solidarität auch nicht perfekt funktioniert. Und selbst als wir uns solidarisch erklärt hatten mit anderen EU-Ländern, änderte das nichts daran, dass die Migranten selbst kein großes Interesse haben, in unserem Land zu bleiben und sich hier zu integrieren.
Was haben Sie bei Ihrem Besuch an der Grenze vom Hubschrauber aus noch gesehen?
Das neue belarussische Atomkraftwerk Astrawez, ganz nah an unserer Grenze. Es produziert Strom, hat kürzlich die nötigen Genehmigungen bekommen. Aber ohne Rechtsstaatlichkeit kann man auf solche Prozeduren nicht viel geben. Unsere Gesetzeslage verbietet es uns, von dort Strom zu kaufen. Auch andere Länder haben erklärt, keinen Strom von dort abnehmen zu wollen.
Polnische Medien berichten, dass ein weiteres AKW entstehen könnte: beim russischen Königsberg (Kaliningrad). Der polnische Unternehmer Zygmunt Solorz-Zak und der ungarische Konzern MVM wollen demnach das dortige, 2013 eingefrorene russische Projekt wiederbeleben.
Das wäre eine verrückte Situation. Selbst wenn wir die Sicherheitsbedenken beiseitelassen: Wo soll dieser Strom einen Absatzmarkt finden? Für die EU ist die grüne Agenda so wichtig, und dann will jemand Strom aus einem Land importieren, das diese Agenda nicht hat? Ich wäre sehr verwundert, wenn die polnische Regierung, die doch Astrawez scharf kritisiert hat, jetzt für ein solches Projekt eintreten sollte.