
Kommentar zum Dublin-System : Es ist teuer, Solidarität zu verweigern
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Immer noch frohen Mutes: EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am vergangenen Wochenende in Brüssel Bild: Imago
EU-Ratspräsident Tusk hat die Aussicht auf eine einstimmig beschlossene Reform des Dublin-Systems zunichtegemacht. Doch die große Mehrheit der EU-Staaten will Änderungen bei der gemeinsamen Flüchtlingspolitik – und zwar bald.
Donald Tusk, der EU-Ratspräsident, wollte diese Woche eine offene Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik führen, im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Das ist dort ohnehin das brennende Thema. Doch sah Tusk sich berufen, noch zusätzlich Öl ins lodernde Feuer zu gießen. Und so behauptete er in seinem Einladungsschreiben mal eben, dass nur einzelne Mitgliedstaaten der Migrationsprobleme Herr werden könnten, keineswegs aber die Union als Ganzes. Ja, sie habe nicht einmal rechtliche Möglichkeiten dafür. Der bisherige Ansatz mit verpflichtenden Aufnahmequoten habe sich als spaltend und ineffektiv erwiesen.
Uneingeschränkt richtig war daran nur eines: dass diese Politik die Union spaltet, zwischen wenigen Staaten im Osten und allen anderen im Norden, Süden und Westen. Aber ist sie auch unwirksam? Aus Griechenland und Italien wurden binnen zwei Jahren 32.000 anerkannte Bürgerkriegsflüchtlinge in andere Staaten umgesiedelt. Zugegeben: viel weniger als die geplanten 100.000 Personen. Aber immerhin 92 Prozent derjenigen, die bislang für eine Umverteilung überhaupt in Frage kamen. Ohne diese Solidarität wäre die Lage in den griechischen und italienischen Flüchtlingslagern nicht mehr zu beherrschen gewesen. Alle EU-Staaten haben sich daran beteiligt, bis auf zwei: Polen und Ungarn.
Freiwillig war das Programm nicht. Es beruhte auf einem rechtskräftigen Beschluss, von einer großen Mehrheit der Staaten getroffen und vom Europäischen Gerichtshof bestätigt. Wie kann Tusk da behaupten, es gebe keine rechtlichen Möglichkeiten der EU? Natürlich gibt es sie, die Asylpolitik ist integraler Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Dahinter kann Europa nicht mehr zurückgehen. Es muss vielmehr einen Weg nach vorn finden, um in künftigen Krisen besser gewappnet zu sein.
An diesem Weg wird in Brüssel seit fünfzehn Monaten gearbeitet. Drei nationale Ratspräsidentschaften, darunter die der Slowakei, haben mit der Kommission und den Mitgliedstaaten Kompromisslinien ausgelotet und verfeinert. Auf dem Tisch liegt inzwischen ein Vorschlag, der zwar auf verpflichtenden Quoten beruht, aber viel flexibler ist als jene Regelung, die in großer Not im Herbst 2015 getroffen wurde.
Er sieht vor, dass Staaten einen Teil ihrer Verpflichtungen auch mit Grenz- und Asylbeamten oder finanziell begleichen können – in einem intelligenten System positiver und negativer Anreize. Ob Tusk mit den Details dieses komplexen Vorschlags überhaupt vertraut ist, wissen selbst hohe Beamte nicht sicher zu sagen. Seine pauschalen Behauptungen wecken Zweifel daran.
Die Reform wird kommen
Nun hat der Pole jene offene und ehrliche Debatte bekommen, die er sich wünschte. Deren Ergebnis fällt allerdings ganz anders aus, als er vermutlich im Sinn hatte. Seine klare Parteinahme half den Solidaritätsverweigerern Kaczynski, Orbán und neuerdings Babiš in Prag nämlich nicht. Sie führte vielmehr dazu, dass sich die anderen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat klarer zu dem Reformkompromiss bekannten als jemals zuvor.
Das gilt vor allem für Spanien und Italien, zwei Staaten an der Außengrenze. Beide waren unsicher, ob sie sich wirklich auf die grundlegende Reform des Dublin-Systems einlassen sollten. Die Italiener, weil sie die Hintertür der existierenden Regelung eigentlich ganz praktisch fanden: Reist ein Flüchtling in Europa weiter und wird er nicht binnen sechs Monaten überstellt, ist der neue Staat für ihn zuständig. Die Spanier, weil sie glaubten, sie hätten ihre Außengrenze im Griff. Warum dann Flüchtlinge aus Staaten aufnehmen, die das nicht so gut hinbekommen? Diese Gewissheit schwindet freilich, seit an spanischen Stränden wieder Tausende Migranten landen. Und Ministerpräsident Rajoy konnte jetzt so wenig wie sein italienischer Kollege Gentiloni zu der Provokation von Tusk schweigen.
So ergibt sich nach der mehr als dreistündigen Debatte der Staats- und Regierungschefs in Brüssel eine neue Lage. Kaum jemand glaubt noch, dass die Dublin-Reform mit den Stimmen aller Staaten beschlossen werden kann. Das hat Tusk zunichtegemacht. Wenn schon der Ratspräsident, dessen vornehmste Aufgabe die Vermittlung ist, in dieser Weise Partei ergreift, ist das Streben nach Einstimmigkeit gescheitert. Zugleich dringt die große Mehrheit der Staaten auf entschlossenes Handeln – nicht irgendwann, sondern im kommenden Juni. So wurde es vereinbart. Niemand wird sie aufhalten können, denn die Verträge lassen in dieser Frage ausdrücklich Mehrheitsentscheidungen zu.
Polen, Ungarn und die Tschechische Republik werden dann zwar immer noch keine Migranten aufnehmen. Aber sie müssen einen angemessenen Preis dafür zahlen: etwa zwölf Milliarden Euro, die im nächsten Finanzrahmen nicht ihnen zugutekommen, sondern jenen, die Flüchtlinge aufnehmen, wenn es sein muss.