+++Bagdad Briefing+++ : Flucht aus der Türkei
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Auf der Flucht vor dem „Islamischen Staat“: Kurdische Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze Bild: Reuters
Von den Angriffen der amerikanisch-arabischen Antiterrorallianz haben die belagerten Bewohner Kobanes bislang nicht profitiert. In dem syrisch-kurdischen Kanton macht man eine stillschweigende Allianz Ankaras mit dem „Islamischen Staat“ für das zögerliche Vorgehen verantwortlich.
Der Flüchtlingsstrom hat sich umgekehrt: Tausende Bewohner Kobanes, der seit Mitte September von Kämpfern des „Islamischen Staats“ eingeschlossenen Kurdenhochburg im Norden Syriens, sind auf dem Weg aus der Türkei zurück in ihre Stadt. Die Luftschläge der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate, Jordaniens sowie Bahreins haben ihnen Mut gemacht;, die Hoffnung, die amerikanisch-arabische Allianz könnte auch ihnen helfen, ist plötzlich wieder wach.
Dabei sieht die Lage in Kobane weiter nicht gut aus. Bewohner berichten, dass die Bomben der Kampfjets Stellungen weit weg vom Belagerungsring rund um den syrisch-kurdischen Kanton getroffen hätten. Auf drei Seiten ist das mittlere der drei kurdischen Siedlungsgebiete an der Grenze zur Türkei von Einheiten Abu Bakr al Bagdadis eingeschlossen. Weil die Luftschläge die IS-Positionen von hinten trafen, trieben sie die Dschihadisten näher an Kobane heran – im Westen der im Zuge des Krieges auf mehr als 350.000 Bewohner angewachsenen Stadt bis auf acht Kilometer.
Kurdische Politiker sehen im zögerlichen Vorgehen der Antiterrorallianz eine stillschweigende Unterstützung der Türkei. „Bis jetzt haben die gezielten internationalen Angriffe gegen IS in Syrien keine Auswirkungen auf die verhängnisvolle Situation in Kobane gehabt“, sagten vier türkisch-kurdische Abgeordnete, darunter die frühere Europaparlamentarierin Feleknas Uca am Donnerstag nach einem Besuch der Region. Die Weltgemeinschaft müsse entschieden gegen die Terrorgruppe vorgehen, sonst drohten „neue Massaker, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Ankara will bereits seit langem eine Pufferzone innerhalb Syriens einrichten, um sich von den Auswirkungen des Bürgerkrieges im Nachbarland abzuschotten. Dass diese genau in dem Gebiet geschaffen werden soll, die der „Islamische Staat“ seit zehn Tagen angreift, sei kein Zufall, sagt Nilüfer Koc, die Kovorsitzende des Kurdischen Nationalkongresses in Arbil.
Auch die Flüchtlingszahlen von mehr als 130.000, die die türkische Regierung nenne, seien bewusst manipuliert, damit die internationale Gemeinschaft eine stärkere militärische Präsenz in den kurdischen Gebieten billige, sagt sie – eines Tages auch jenseits der eigenen Grenzen.
Bereits am Mittwoch begannen Tausende Bewohner Kobanes, in ihre Dörfer in Nordsyrien zurückzukehren; mehr als 30.000 hätten ihre Häuser ohnehin nie Richtung Türkei verlassen, heißt es von unterschiedlichen Quellen vor Ort. Diese Beobachtung teilen auch seit Jahren in den kurdischen Gebieten tätige Menschenrechtsorganisationen.
Martin Glasenapp von der Hilfsorganisation Medico International, der gerade aus der Region zurückgekehrt ist, sagt, dass viele in der Türkei gestrandete Flüchtlinge es vorzögen, in Parks und auf der Straße zu campieren. „Sie verweigern die Aufnahme in die staatlichen Flüchtlingscamps der türkischen Regierung, da diese in ihren Augen nicht der Hilfe, sondern der Kontrolle dienen.“