Alles andere als einig
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Offene Gespräche über strategischen Unterschiede werden trotz wiederholter Treffen auf höchster Ebene nicht geführt, ergab eine neue Studie (Aufnahme von Merkel und Macron nach einem Sicherheitsrats-Videogespräch Anfang Februar zwischen Berlin und Paris). Bild: dpa
Immer öfter kommt es zwischen Berlin und Paris zu Irritation und Unverständnis – vor allem bei den Themen Nato und Russland. Das liegt nicht nur am unterschiedlichen Temperament Merkels und Macrons.
Von einer „neuen Partnerschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich, wie sie sich Emmanuel Macron bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2017 zum Ziel gesetzt hat, kann in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht die Rede sein. Zu diesem ernüchternden Schluss kommt wenige Monate vor der Bundestagswahl eine Studie der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“, die der F.A.Z. vorliegt. Die Gründe für Irritationen und Missverständnisse zwischen Paris und Berlin liegen dabei tiefer, als es zunächst scheint.

Politische Korrespondentin mit Sitz in Paris.
Der Gegensatz zwischen dem ehrgeizigen, oft ungeduldigen französischen Präsidenten und der erfahrenen, meist besonnenen und abwartenden Bundeskanzlerin verdeckt die eigentlichen Ursachen der deutsch-französischen Mésentente, die auch mit Unterzeichnung des Aachener Vertrages nicht überwunden werden konnten. Aus Sicht der Autoren hat sich die Zusammenarbeit in den vergangenen vier Jahren kaum fortentwickelt, weil beide Länder nicht länger eine gemeinsame Sicht auf strukturelle Veränderungen in den internationalen Beziehungen teilen.
Macron sieht Trump nicht als „Unfall“
Am deutlichsten kommt die unterschiedliche Bewertung im Verhältnis zu Russland und zur Nato zum Ausdruck. Macrons Außen- und Sicherheitspolitik wird von der Annahme geleitet, dass sich die Vereinigten Staaten in den nächsten Jahren weiter aus Europa zurückziehen und sich noch stärker als bisher dem Geschehen im asiatisch-pazifischen Raum widmen werden. Die Präsidentschaft Donald Trumps erscheint unter dieser Prämisse nicht wie ein „demokratischer Unfall“, sondern wie die logische Folge einer Entwicklung, die auch unter seinem Nachfolger, wenn auch unter diplomatischeren Vorzeichen, fortgesetzt wird.
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JETZT F+ LESENDeshalb will Macron die Autonomie Europas stärken und verhindern, dass es zur „Verhandlungsmasse“ der Großmächte Vereinigte Staaten und China werde. Die Bundesregierung hingegen betreibe unter Präsident Biden eine Normalisierung des Verhältnisses zur amerikanischen Schutzmacht, die von neuem den Grundpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik bilden soll.
Auch innerhalb der EU sei Deutschland vorrangig darum bemüht, den Status quo zu wahren, während Macron auf neue, oftmals nur lose mit den EU-Strukturen verknüpfte Arbeitsformate setzt. In diesem Gegensatz gründen die meisten Dissonanzen im deutsch-französischen Verhältnis, urteilt die Studie unter Federführung der Politikwissenschaftlerin Ronja Kempin.
Zu viel Sprachlosigkeit
Offene Gespräche über diese strategischen Unterschiede würden trotz wiederholter Treffen auf höchster Ebene wie auch im deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat nicht geführt, stellen die Autoren fest. Sie empfehlen, dass sich die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung der Themen bemächtigt. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass nationale Alleingänge ebenso wie Desinteresse nicht geduldet werden können, wenn die Zusammenarbeit im Sinne des Freundschaftsvertrages besser funktionieren soll.
Beispielhaft steht in dieser Hinsicht die Russland-Politik Macrons. Von dem im Sommer 2019 eingeleiteten Versuch, mit Präsident Putin in einen „Dialog über europäische Sicherheit“ zu treten, wurde die Bundesregierung überrascht. Das Hauptproblem besteht bis heute darin, dass Macron das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands auf der Krim-Halbinsel im März 2014 nicht im gleichen Maße wie die Bundesregierung als Zäsur wahrnimmt.
Zwar trägt er die Friedensverhandlungen zur Ukraine im sogenannten Normandie-Format mit und hat sich auch der Sanktionspolitik nach der versuchten Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalnyj angeschlossen, aber dies führt nicht dazu, dass er seine Politik der Annäherung an Putin grundsätzlich in Frage stellt.
Seine Russland-Politik wird vielmehr von einer geopolitischen und stark persönlich gefärbten Sichtweise geleitet. Macron glaubt, dass mit der russischen Staatsführung stärker zusammengearbeitet werden müsse, um sie einer engeren Bindung zu China zu entreißen. Seine Vorstellungen korrigiert er nicht, auch wenn sie nicht mit der russischen Realpolitik übereinstimmen.
Wie „hirntot“ ist die Nato?
Als schwieriger Partner erweist sich Macron durch seinen disruptiven Ansatz, wie er ihn erfolgreich während des Präsidentschaftswahlkampfes 2017 propagiert hatte. Den Bruch mit allen diplomatischen Gepflogenheiten markierte das Interview im „Economist“, in dem er die Nato als „hirntot“ qualifizierte. Die Kritikpunkte am transatlantischen Verteidigungsbündnis wurden nach Einschätzung der Autoren informell von den meisten Nato-Verbündeten geteilt. Dennoch wurde es als kontraproduktiv wahrgenommen, wie Frankreich unter Macron seine Standpunkte vertritt und unkoordiniert Initiativen lanciert.
Insgesamt kann die Studie, die sich auch intensiv mit den Krisenherden Libyen und Türkei befasst, als Mahnung an die nächste Bundesregierung gelesen werden, gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik stärker auf Aussprachen mit dem französischen Partner zu pochen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die französische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022, die Macron für Wahlkampfzwecke nutzen will. Kaum erwähnt werden zugleich positive Entwicklungen etwa bei den verschiedenen Projekten im Rüstungsbereich (Flugtransport, Panzer, Kampfflugzeugsystem) und der Schulterschluss zum europäischen Wiederaufbaufonds.
Die kritische Wahrnehmung überwiegt, weil beide Regierungen an den hohen Zielen gemessen werden, die sie sich im Aachener Vertrag gesetzt haben. Tatsächlich versprachen sich Paris und Berlin im früheren Krönungssaal des Aachener Rathauses, „gemeinsame Standpunkte bei allen wichtigen Entscheidungen“ in der Außen- und Sicherheitspolitik festzulegen und, „wann immer möglich, gemeinsam zu handeln“. Daran sollten die Vertragspartner auf beiden Seiten des Rheins regelmäßig erinnert werden. Andernfalls könnte der vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle überlieferte Ausspruch wahr werden: Verträge sind wie junge Mädchen und Rosen, sie haben ihre Zeit, sie verblühen schnell.
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