Prozessbeginn in Madrid : Katalanischen Separatisten drohen 177 Jahre Haft
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Mehr als 500 Zeugen geladen
Um zu rekonstruieren, was im Herbst 2017 geschah, hat das Gericht mehr als 500 Zeugen geladen. Zu ihnen zählt der frühere Ministerpräsident Mariano Rajoy. Auf das Erscheinen von König Felipe, von UN-Menschenrechtsberichterstattern sowie dem amerikanischen Linguisten Noam Chomsky wurde verzichtet. Die sieben Richter wollen sich auf die Fakten und nicht auf die Frage konzentrieren, ob die Katalanen ein Recht haben, sich von Spanien zu lösen. Zugleich kämpfen sie um ihren eigenen Ruf. Auch Juristen, die progressiven Vereinigungen angehören, wehren sich. Sie fühlen sich von dem pauschalen Vorwurf verunglimpft, das Urteil stehe schon vor Prozessbeginn fest und sei von der Politik diktiert.
Zum Beweis für die Unabhängigkeit der Justiz erinnert man in Madrid zum Beispiel an den Schwager des Königs, der im vergangenen Sommer wegen Korruption eine Freiheitsstrafe von knapp sechs Jahren antreten musste. Am 1. Juni 2018 stürzte die Regierung der konservativen Volkspartei (PP) über die harten Urteile im „Gürtel“-Prozess. Damals wurden Freiheitsstrafen von insgesamt 350 Jahren verhängt und wurde der PP vorgehalten, ein „effizientes System der institutionellen Korruption“ zu betreiben. In diesem Jahr musste auch der einstige PP-„Superminister“ Rodrigo Rato eine mehrjährige Freiheitsstrafe antreten.
Jetzt geht es jedoch vor dem Obersten Gerichtshof nicht um persönliche Bereicherung. Der Hauptvorwurf lautet, dass die 12 Politiker und Aktivisten das Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens aktiv vorbereitet hatten – obwohl es im Widerspruch zur Verfassung stand, das Verfassungsgericht es untersagt und eine Ermittlungsrichterin dazu aufgefordert hatte, es zu verhindern. Zudem geht es um Gesetze, die dafür geändert wurden und Hunderttausende Euro, die für diesen Zweck bereitgestellt worden waren. Seit 2015 sei in Barcelona eine „perfekt geplante und organisierte“ Strategie verfolgt worden, um die verfassungsmäßige Ordnung zu zerbrechen. Dabei sei auch die Anwendung von Gewalt in Kauf genommen worden, heißt es in der Anklageschrift. Sechs Mitglieder der ehemaligen Regierung sowie die frühere Parlamentspräsidentin Carme Forcadell und die Vorsitzenden der beiden größten separatistischen Organisationen, Jordi Sànchez und Jordi Cuixart, sind deshalb auch wegen Rebellion angeklagt.
Dieser Anklagepunkt ist in Spanien wie im Ausland umstritten. Denn es setzt die Anwendung von Gewalt voraus. Die Generalstaatsanwaltschaft und die „Volksanklage“ von Vox sehen diese Voraussetzungen erfüllt. Die „Abogacía General del Estado“, der Rechtsdienst der spanischen Regierung, hat dagegen nur Anklage wegen „sedición“ (Aufruhr) erhoben. Für Junqueras beträgt das beantragte Strafmaß 12 statt 25 Jahre. Der Rechtsdienst – der dritte Ankläger in dem Verfahren – hält das Maß der Gewalt vor und während des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2018 für den Tatbestand der Rebellion nicht für ausreichend.
Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher
Mehrere europäische Gerichte sahen das ähnlich. Deutschland, Belgien und Schottland weigerten sich, Puigdemont und seine Mitstreiter wegen Rebellion an Spanien auszuliefern. Der einstige Regionalpräsident war im März 2018 aufgrund eines europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen worden. Das Oberlandesgericht in Schleswig entschied im Juli, ihn nur wegen Veruntreuung an Spanien auszuliefern, nicht aber wegen Rebellion oder Aufruhr. Das für den vergleichbaren deutschen Tatbestand des Hochverrats nötige Ausmaß der Gewalt hätten die Auseinandersetzungen in Katalonien nie erreicht.
Das Verfahren wird in Spanien nicht auf den Plenarsaal im früheren Salesianer-Kloster begrenzt bleiben. Oriol Junqueras erwägt, als Spitzenkandidat seiner ERC-Partei bei den Europawahlen anzutreten. Der ehemalige Innenminister Joaquim Forn möchte bei der Bürgermeisterwahl in Barcelona antreten. Und in Madrid demonstrierten am Wochenende Zehntausende gegen Ministerpräsident Pedro Sánchez. Nach ihrer Meinung geht er viel zu sanft mit den katalanischen Separatisten um. Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher. Am Montag war vom 14. April die Rede.