Anti-Regierungs-Demonstranten am Mittwoch in Hongkong Bild: Reuters
Mit dem Schuss eines Polizisten auf einen Schüler haben die Ausschreitungen in Hongkong eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Aussichten sind düster. Demonstranten sprechen von Krieg.
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Nach dem Polizeischuss auf einen Schüler gibt sich die Protestbewegung in Hongkong kämpferisch. Im Zentrum von Hongkong zogen am Mittwoch abermals Tausende Demonstranten durch die Geschäftsstraßen. An der Schule des Angeschossenen im Stadtteil Tsuen Wan hatten Mitschüler am Vormittag an einer Art Mahnwache teilgenommen. Vor dem Eingang der Schule hatten sie Papierkraniche aus Origami auf einem Geländer aufgereiht. Auf einem handgeschriebenen Zettel wünschte jemand „dem Verletzten schnelle Genesung“. Auf einer Pressekonferenz neben der Schule verurteilten Demonstrationsteilnehmer und ehemalige Schüler die Polizei. Den Ärzten zufolge ist der Zustand des Schülers mittlerweile stabil. Ihm wurde ein Projektil aus der Brust operiert.
Bei der „Pressekonferenz der Bürger“ wurden zunächst die dramatischen Aufnahmen vom Vortag gezeigt. Auf den Videos ist zu sehen, wie der 18 Jahre alte Tsang Chi-kin einen Polizisten konfrontiert. Der Demonstrant versucht dem Polizisten mit einer Stange auf eine Hand zu schlagen, in der dieser eine Pistole hat. Dann schießt der Polizist ihm aus nächster Nähe direkt in die Brust. Die weiteren Aufnahmen zeigen ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegend. „Meine Brust schmerzt so sehr, ich muss ins Krankenhaus“, sagte der Schüler auf dem Video. Um den Effekt noch weiter zu stärken, haben die Demonstranten das Video mit dramatischer Musik unterlegt.
Wie schon bei früheren Gelegenheiten griffen die Demonstranten zum Pathos bei der Verurteilung des Zwischenfalls. „Ein Schüler aus der elften Klasse wurde von der Hongkonger Polizei in die Brust geschossen. Das Volk in Hongkong ist es satt, nur verurteilende Worte als ihr einziges Schild gegen die tödlichen Kugeln und Gewehre zu haben!“, sagte ein Sprecher. Er beschuldigte den Polizisten des versuchten Mordes. „Warum sonst sollte er auf die Brust eines unschuldigen Jungen zielen?“ Der Mann kündigte an, es werde für alle Gräuel Rache geübt: „Dies bedeutet Krieg“, warnte er.
Allerdings gehörte der junge Mann eben auch nur zu einer von vielen Gruppen, die sich der Protestbewegung angeschlossen haben. Eine ihrer Eigenheiten ist es, dass sie über keine Führung verfügt. Doch es scheint auch klar, dass sich die Lage nach diesem Dienstag weiter verschlechtern könnte. Während die Volksrepublik China ihren 70. Geburtstag feierte, hatten die Demonstranten in Hongkong einen „Tag der Trauer“ ausgerufen. Er endete in einer der schwersten Straßenschlachten seit Beginn der Proteste gegen das Auslieferungsgesetz vor bald vier Monaten.
Die Polizei war mit einer teils neuen Taktik gegen die Demonstranten vorgegangen. Dabei wurde die Demonstranten in einigen Straßenzügen faktisch eingekesselt und von mehreren Seiten mit Tränengas beschossen. Nach Angaben der Polizei waren am Dienstag 1400 Kanister mit Tränengas eingesetzt worden, dazu 900 Gummigeschosse. Dass die Intensität der Auseinandersetzung zugenommen hat, zeigt sich schon daran, dass in den ersten zwei Monaten der Proteste insgesamt lediglich 1000 Kanister Tränengas verschossen worden waren. In vier verschiedenen Zwischenfällen sei am Dienstag mit scharfer Munition geschossen worden. Allein am Dienstag sollen zudem 269 Menschen festgenommen worden sein.
Der Polizeichef Stephen Lo hatte das Vorgehen des Polizisten als „legal und angemessen“ verteidigt. Der Polizist habe vor dem Schuss eine Warnung ausgesprochen. Doch auch ohne diesen Vorfall richten sich die Proteste immer mehr gegen die Hongkonger Polizisten, die von vielen hier nur noch als „Hunde“ bezeichnet werden.
Auch am Mittwoch wurden darüber hinaus wieder Vergleiche zur Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 in Peking gezogen. Die Gefahr besteht, dass sich die Fronten nun weiter verhärten. Nach den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag könnte Peking sich zu einem härteren Vorgehen veranlasst fühlen. Aber auch die Demonstranten scheinen alles andere als gewillt, ihren Kampf einfach aufzugeben. So nutzen Dutzende Schüler einer benachbarten Schule die Pressekonferenz, um mit Sprechchören und selbstgemalten Plakaten auf sich aufmerksam zu machen. „Kämpft für die Freiheit!“, ruft einer der Schüler. „Steht auf mit Hongkong!“, antworten die anderen im Chor.