„Memorial“-Archiv in Moskau : Im Untergeschoss der russischen Geschichte
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Eine Baracke in dem Lager Panyshevsky, aufgenommen im Oktober 1940 Bild: Picture-Alliance
Das „Memorial“-Archiv in Moskau ist das Untergeschoss der russischen Geschichte. Es erinnert an die Schrecken während der sowjetischen Diktatur. Dem Kreml ist das ein Dorn im Auge.
Drei Worte und eine Jahreszahl, sorgfältig aufgestickt auf ein kleines weißes Tuch, erzählen eine Geschichte zerstörter Leben: „Larusa ljubi Mamu 1938“ – „Larusa, hab die Mama lieb“. Die Mutter konnte nicht wissen, ob Larusa sie noch liebt, Larusa konnte nicht wissen, ob die Mutter noch lebt, als diese Worte gestickt wurden. Beide konnten nicht wissen, was mit dem Vater war. Er war da schon nicht mehr am Leben – erschossen, einer von den 750.000, die während des Großen Terrors von Juli 1937 bis November 1938 in der Sowjetunion hingerichtet wurden. Die Mutter war als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ im Lager, ohne Recht auf Kontakt nach außen, Larusa lebte in einem Heim, in dem ihr und den anderen Kindern gesagt wurde, dass sie ihre Eltern hassen sollten, so wie alle anderen „Volksfeinde“ auch.

Redakteur in der Politik.
Irina Ostrowskaja faltet das Tuch sorgfältig zusammen, steckt es in eine Klarsichtfolie, in der ein Zettel mit Namen und einigen Daten liegt, und legt es zurück in die Schublade eines grauen Metallschranks, der in jedem gewöhnlichen Büro stehen könnte. Die Schublade, der Schrank, der Raum, das ganze Untergeschoss des Hauses Nummer 5 am Karetnyj Rjad in Moskau sind voller solcher Geschichten. Seit 25 Jahren sammeln die Mitarbeiter der Gesellschaft „Memorial“ Zeugnisse der Opfer der sowjetischen Diktatur. Das meiste ist Papier – Haftbefehle, Durchsuchungsprotokolle, Totenscheine, Urteile, Bittschriften, Anträge auf Rehabilitierung, Briefe, Fotos, Tagebücher, Memoiren, Zeichnungen.
Manche der mehr als 60.000 Mappen sind dick und dokumentieren fast ein ganzes Leben, andere sind dünn und geben kaum etwas über den Menschen preis, dessen Spur sich irgendwo im GULag verliert. In einer findet sich nur ein auf beiden Seiten eng mit Bleistift beschriebenes Blatt Zigarettenpapier: ein letztes Lebenszeichen, das von irgendwem aus dem Lager herausgeschmuggelt wurde und auf unergründlichen Wegen zu seinen Adressaten gelangt ist, die es als gefährlichen Schatz über Jahrzehnte gut versteckt hüteten, ehe sie Jahre nach dem Ende der Sowjetunion wagten, damit zu „Memorial“ zu gehen und über ihre Familiengeschichte zu sprechen.
„Memorial“ ist eine der ältesten und größten Menschenrechtsorganisationen Russlands. Sie entstand Ende der achtziger Jahre als Gesellschaft zur Erforschung der Verbrechen des sowjetischen Regimes, vor allem der Stalin-Zeit, wandte sich aber seit Anfang der neunziger Jahre auch aktuellen Menschenrechtsfragen zu.
Dem Putin-Regime scheint „Memorial“ ein Dorn im Auge zu sein. Wie nun bekannt geworden ist, hat sich das Justizministerium in Moskau schon im September an das Oberste Gericht des Landes gewandt, um eine Auflösung der Organisation zu erreichen. Die Verhandlung über den Antrag soll am 13. November stattfinden. „Memorial“ will wegen dieser Klage vor das russische Verfassungsgericht ziehen.
Ohne Gerichtsurteil im Lager
In der Schublade, aus der Irina Ostrowskaja nun die nächsten Klarsichtfolien holt, sind Dokumente des Großen Terrors, die nicht für die Aufbewahrung in Aktenmappen taugen und so hübsch und harmlos sind, dass es kaum erträglich ist: ein liebevoll genähtes Puppenhemdchen, eine Stickerei, die Rotkäppchen zeigt, eine andere mit Figuren aus dem Märchen von den drei Schweinchen und dem Wolf. Die kleinen Stoffstücke haben eine Verbindung zu Karteikarten in den Kästen an der Wand gegenüber: Name, Geburtsort und -datum, Tag der Festnahme, Anschuldigung, Bezeichnung des Lagers, Todesdatum.
Die Stickereien sind in einem Lager in der Steppe Nordkasachstans entstanden, wo es im Sommer bis zu 40 Grad heiß werden und wo die Temperatur im Winter auf fast 40 Grad unter null fallen kann. Die Insassinnen hatten ihm den bitteren Spitznamen „Algier“ gegeben – im Russischen lässt sich das als Abkürzung für „Akmolinsker Lager für Frauen von Vaterlandsverrätern“ auflösen. Sie waren nur dort, weil sie die Frauen ihrer Männer waren – für fünf oder acht Jahre und ohne Gerichtsurteil, so wie es der Befehl Nummer 00486 des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten vom 15. August 1937 über die Operation gegen die Familienangehörigen der Volksfeinde vorsah.