Britische Nachwahl : Das Mysterium von Rochester
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Ohne ihn geht nichts: Ukip-Chef Nigel Farage macht Wahlkampf in Rochester Bild: Getty
In der Grafschaft Kent wird an diesem Donnerstag ein Abgeordneter gewählt. Eigentlich nichts besonderes - käme er nicht aus der britischen Unabhängigkeitspartei Ukip und würde wahrscheinlich gewinnen.
Bisher war Rochester, ein historisches Örtchen in der Grafschaft Kent, die „Charles-Dickens-Stadt“. Manche Touristen kamen auch, um die Kathedrale und die Burganlage aus dem 11. Jahrhundert zu bewundern, aber die meisten suchten die Nähe zu Englands großem Erzähler, der hier ein paar Kindheitsjahre verbracht und den Ort später in seinen Büchern unsterblich gemacht hat. In der Fußgängerzone ist nun die Sorge zu hören, dass Rochester demnächst einen anderen Zweitnamen tragen könnte: „Ukip-Stadt“.
Britische Nachwahl : Konservative fürchten Einzug von Ukip-Kandidaten

Politischer Korrespondent in London.
Auf dem Bahnhofsvorplatz von Rochester geht es in diesen Tagen zu wie in der Lobby von Westminster. Abgeordnete und Minister eilen aneinander vorbei und grüßen sich über Parteigrenzen hinweg. Noch am Morgen war Premierminister David Cameron in der Stadt, zum fünften Mal. Das ist nichts gegen Nigel Farage: Der Vorsitzende der Ukip, der britischen Unabhängigkeitspartei, brachte es auf acht Besuche. So viele Politiker kommen gerade nach Rochester, dass sich manche Einwohner belästigt fühlen. Einigen politischen Besuchern aus London wurde schon bedeutet, von einem öffentlichen Auftritt abzusehen und lieber beim Plakatekleben zu helfen.
Das ganze Königreich wird an diesem Donnerstag auf das kleine Rochester gucken, wenn es gemeinsam mit den Nachbarortschaften Chatham und Strood einen neuen Abgeordneten für das Londoner Unterhaus wählt. An den Machtverhältnissen kann diese Nachwahl nichts ändern; rechnerisch würde die Regierungskoalition den Verlust des konservativen Wahlkreises kaum spüren. Aufsehen erregt die Nachwahl, weil sie mit Mark Reckless einen weiteren Ukip-Abgeordneten ins Unterhaus bringen könnte.
Der erste, Douglas Carswell, hatte sich im vergangenen Monat in Clacton ins Parlament wählen lassen - nach dem gleichen Muster: Erst verabschiedete er sich aus Partei und Fraktion der Konservativen, dann trat er im eigenen Wahlkreis unter Ukip-Banner wieder an. Als Carswell mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde, versprach ein zorniger Cameron, dass dies ein Einzelfall bleiben und die Partei alles in ihrer Macht Stehende tun werde, um Mark Reckless einen ähnlichen Sieg im Wahlkreis Rochester zu verbauen. Ziel müsse es sein, sekundierte die Tory-nahe Presse im Land, das „Momentum“ zu brechen, das Ukip derzeit von Erfolg zu Erfolg treibe.
Das war im Oktober. Inzwischen genügt ein Gang über die High Street von Rochester, um festzustellen, dass die Ukip vor ihrem nächsten Triumph steht. Im Wahlkampfbüro der Tories gewinnt man den Eindruck, die Partei habe sich mit einer Niederlage schon abgefunden. An einen Sieg glaubt nicht einmal der Pressesprecher: „Ich würde sagen, wir kämpfen um jede Stimme“, sagte er mit gereiztem Unterton. Wie viel fröhlicher wird der Besucher dagegen im Büro der Ukip empfangen, das ein paar Meter die Straße hinauf liegt.