Zwangsanleihe : Warum Deutschland an Athen zahlen soll
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Als Besatzungsmacht hatte das Deutsche Reich der griechischen Nationalbank eine Zwangsanleihe von 476 Millionen Reichsmark auferlegt. Bild: Picture-Alliance
Deutschland soll Griechenland elf Milliarden Euro schulden – als Folge der Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Das sagt nicht nur Ministerpräsident Tsipras, sondern auch Linksfraktionschef Gysi. Wie kommen sie darauf?
Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, hat sich der Darstellung von Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras angeschlossen: Deutschland, so Gysi, habe noch Schulden aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bei Griechenland. Als Besatzungsmacht habe das Deutsche Reich der griechischen Nationalbank nämlich eine Zwangsanleihe von 476 Millionen Reichsmark auferlegt und nie zurückgezahlt. Mit Zinsen habe Athen daher heute eine „berechtigte Forderung in Höhe von acht bis elf Milliarden Euro“ gegen Berlin, sagte Gysi der „Leipziger Volkszeitung“ und fragte: „Wie will man jetzt von Griechenland die Rückzahlung von Darlehen verlangen, wenn man eigene niemals zurückgezahlt hat?“
Die 476 Millionen tauchen auch in deutschen und griechischen Medien oft auf. Die Zahl stammt aus einer 251 Seiten umfassenden Akte, die unter der Signatur „R27320“ im Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin lagert. Der Ordner mit dem Titel „Sonderbevollmächtigter Südost“ enthält den Abschlussbericht von deutschen Verwaltungsbeamten, die von 1941 bis 1944 in Athen stationiert waren. Bemerkenswert an der Akte ist zunächst ihr Entstehungszeitpunkt: Die Berichte wurden am 12. April 1945 fertiggestellt – vier Tage vor Beginn der sowjetischen Großoffensive auf Berlin, 18 Tage vor Hitlers Selbstmord, weniger als einen Monat vor der Kapitulation des Deutschen Reiches. Wer um alles in der Welt sollte sich damals in Berlin noch für irgendwelche Tabellenkalkulationen aus der im Oktober 1944 zu Ende gegangenen deutschen Besatzungszeit in Griechenland interessiert haben?
Griechenland : Streit um Reparationen
Besatzungskosten in Übereinstimmung mit Völkerrecht
Liest man die Akte gründlich, wird die Antwort zwischen den Zeilen deutlich. Zwar hüteten sich die Autoren, die Tatsache der deutschen Niederlage auszusprechen, denn „Defätismus“ hätte in den Wahnsinnstagen des „Endkampfs“ um die Reichshauptstadt lebensgefährlich sein können. Doch zeigt sich an mehreren Stellen, dass die Verfasser mit ihren Berechnungen bereits die Nachkriegszeit im Sinn hatten. So weist ein gewisser Oberregierungsrat Nestler darauf hin, dass einige Wehrmachtseinheiten beim Einmarsch in Griechenland 1941 für von Griechen gelieferte Waren oder Dienstleistungen auf Reichsmark lautende Empfangsbestätigungen ausgestellt hatten und warnt: „Bei künftigen Verhandlungen werden die Griechen von neuem den Standpunkt vertreten, dass das Reich für die Einlösung der Empfangsbescheinigungen aufzukommen hat.“ Dass „künftige Verhandlungen“ schwerlich vom NS-Regime geführt werden würden, verstand sich von selbst.
Auch die Entstehung der 476 Millionen Reichsmark deutscher Schulden stellt sich zumindest nach Aktenlage etwas anders dar. Von einer „Zwangsanleihe“ (oder überhaupt einer Anleihe) ist nicht die Rede. Womöglich mieden die bereits an ihre Nachkriegskarrieren denkenden Autoren das Wort bewusst. Als Griechenland 1941 von Deutschland und Italien (sowie Bulgarien, aber das ist hier nebensächlich) besetzt wurde, wiesen die Besatzungsmächte die Regierung in Athen an, sie müsse sämtliche mit der Okkupation ihres eigenen Landes anfallenden Kosten selbst tragen. Das war ausnahmsweise nicht eine Perfidie von Faschisten und NS-Regime, sondern seit der Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 völkerrechtlich anerkannter Standard. Doch bald zeigte sich, dass Griechenland, schon vor Kriegsbeginn stark verschuldet, die Last nicht tragen konnte.