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Griechenland : Eine Grundregel

Nach der Absage des Referendums war viel von einem Mangel an Demokratie und Würde in Europa zu hören. Doch auch für Staaten gilt nuneinmal die Regel: Niemand kann auf Dauer mehr ausgeben, als er einnimmt.

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          Historiker bezeichnen das 20. Jahrhundert aufgrund seiner hohen Katastrophendichte als „kurzes“ Jahrhundert. In diesem Sinne handelte es sich bei den vergangenen sieben Tagen für Griechenland um eine extrem kurze Woche. Dafür war sie aber ziemlich breit. Die Ereignisse taten, was sie gemeinhin tun, wenn sie allzu eng zusammengepfercht werden: Sie überschlugen sich. Am Montag drohte Griechenlands Ministerpräsident Papandreou, er werde seinen Landsleuten ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können.

          Er plante die überdurchschnittlich zersplitterte griechische Gesellschaft zu fragen, was sie eigentlich wolle. Was auch immer sie geantwortet hätte, die Antwort wäre schmerzhaft gewesen. Deshalb kam man Papandreou mit einem Gegenangebot zuvor, das wiederum er nicht anlehnen konnte. Kaum 24 Stunden nach seiner Ankündigung bröckelte Papandreous ohnehin schon angeschlagener Rückhalt in der Partei. Am Samstag begann er mit Gesprächen über eine neue Regierung, deren Chef mit einiger Sicherheit nicht er selbst sein wird. So kann es gehen in einer Demokratie.

          Plötzlich galt er als tragischer Held

          Seltsam sind allerdings einige der Argumente, mit denen Papandreou in diesen Tagen Schützenhilfe geleistet wurde. Was für ein verkommenes System sei es doch, wenn schon die Ankündigung einer Volksbefragung einen Kontinent ins Wanken bringe. Plötzlich galt Papandreou als tragischer Held. Die Rücknahme des Referendums wurde zur Entmündigung Griechenlands umgedeutet, zum Menetekel für einen Mangel an Demokratie und Würde in Europa.

          Wer sich von Zeit zu Zeit hinunterwagt ins Schlachtfeld der Fakten, kann schnell feststellen: Auf den griechischen Fall trifft die Behauptung, der Verzicht auf ein Referendum sei ein Ausweis postdemokratischen Verfalls, schlicht nicht zu. Sie klingt nur fesch. Dass „die Märkte“ neuen Regeln unterworfen werden müssen und es ein Unding ist, wenn Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, ist mittlerweile Talkshowallgemeinwissen, das bald in Lesefibeln für Grundschüler aufgenommen werden wird.

          Dass es noch ein unabsehbar weiter Weg ist, bis die berechtigten Forderungen nach der Zähmung des Kapitalismus durchsetzbar sein werden, ist ebenfalls kaum umstritten. Indes: Auch in der besten aller möglichen Welten, mit makellos geregelten Märkten, Leerverkaufsverboten, weltweit geltenden Transaktionssteuern und was es da noch an Desiderata geben mag, wäre eine wirtschaftliche Grundregel nicht außer Kraft gesetzt. Es ist eine etwas biedere, hausbackene, wenig elegante Regel, und wer an sie erinnert, gewinnt keinen intellektuellen Schönheitswettbewerb: Auch Staaten können auf Dauer nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen.

          Tun sie es doch, erhalten sie irgendwann die Quittung. Einige Staaten früher, andere später, die meisten aber erst dann, wenn diejenigen, die den Schuldenberg angehäuft haben, schon tot sind. Das berührt eher einen Mangel an Demokratie (zumindest aber an Gerechtigkeit) als der Umstand, dass Griechenland im Schuldturm der Märkte sitzt und ihn ohne unsere Hilfe nicht wird verlassen können.

          Michael Martens
          Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.

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