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Geleakte Corona-Chats : Sie wollten ihre Gegner erpressen

Der damalige britische Gesundheitsminister Matt Hancock spricht auf einer Pressekonferenz zur Coronapolitik in der Downing Street am 27. Mai 2021. Bild: AP

Whatsapp-Chats des früheren Gesundheitsministers Matt Hancock sorgen für Unmut in London. Sie zeigen die tiefen Gräben bei den Tories und werden zum Problem für Rishi Sunak.

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          Die Zahl der englischen Schüler, die dauerhaft den Unterricht schwänzen, ist nach der Corona-Pandemie auf fast 120.000 gestiegen. Das sei, teilten Fachleute in dieser Woche dem Ausschuss für Erziehung des Unterhauses mit, fast eine Verdoppelung, gemessen an den Erhebungen vor 2020. Dies ist eine der anhaltenden Folgen des Covid-19 Ausnahmezustands, der in England später einsetzte als in den meisten anderen europäischen Ländern, und dessen Ende vergleichsweise früh, vor mehr als einem Jahr, ausgerufen wurde. Gesichtsmasken und Abstandsregeln sind aus dem Londoner Stadtbild schon lange völlig verschwunden.

          Johannes Leithäuser
          Politischer Korrespondent für das Vereinigte Königreich und Irland.

          Doch eine andere Folge der Corona-Pandemie bleibt:  der Vertrauensverlust des politischen Publikums in seine Regierung. Der hat sich jüngst dadurch verstärkt, dass die Zeitung „Daily Telegraph“ in einer Art Serie Tag für Tag Tausende vertrauliche Whatsapp-Mitteilungen veröffentlicht, die zur Hochzeit der Krise zwischen Ministern der damaligen Regierung Boris Johnsons hin- und hergingen.

          Fotos aus Ministerbüro enthüllt

          Die Quelle dieser Indiskretionen ist das Mobiltelefon des früheren Gesundheitsministers Matt Hancock. Dessen ehrgeizige politische Laufbahn endete im Sommer 2021 während eines von ihm selbst befürworteten Lockdowns abrupt,  nachdem Fotos einer Überwachungskamera aus seinem Ministerbüro enthüllt wurden. Sie zeigten, wie er – entgegen den geltenden Isolierungsregeln – seine Mitarbeiterin und heimliche Freundin küsst.

          Dass der ertappte Minister sich anschließend anstrengte, auf der öffentlichen Bühne andere Rollen zu finden, wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Erstens verlor er durch die Teilnahme an der britischen Version des „Dschungelcamps“ die Mitgliedschaft in der Parlamentsfraktion der Konservativen Partei. Zweitens erreichte er mit seinem Bemühen, durch die Vorlage seiner „Pandemischen Tagebücher“ wohlwollend in Erinnerung zu bleiben, genau das Gegenteil. Seine Ko-Autorin, die Journalistin Isabel ­Oakeshott, befand kurzerhand, die vertraulichen Whatsapp-Nachrichten, die Hancock ihr zugänglich gemacht hatte, seien für sich genommen schon ein derart bedeutender Lesestoff, dass sie ungefiltert der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden sollten.

          Die Summe dieser Nachrichten lässt nun die bitteren Monate der Covid-Beschränkungen wieder lebendig werden, einschließlich der internen Kämpfe in der konservativen Regierungspartei über Sinn und Dauer jener Isolierungsmaßnahmen. Die Pandemie-Politik vertiefte damals noch interne Gräben, die Brexit-Enthusiasten und europäische Kooperations-Befürworter ohnehin schon zwischen sich gezogen hatten. Nun stellt sich heraus, dass Hancock und seine Whatsapp-Getreuen Politiker, die sich für Lockerungen aussprachen, unter Druck setzen wollten. In einem Fall zum Beispiel erwogen sie, dem Abgeordneten mit der Streichung von finanziellen Zuschüssen für eine Behinderteneinrichtung in dessen Wahlkreis zu drohen.

          Es ging auch um Sunak

          Dass diese innerparteilichen Kämpfe jetzt neue Aufmerksamkeit finden, wäre für sich genommen schon ein Ärgernis für den gegenwärtigen Premierminister Rishi Sunak. Bis zu den nächsten Kommunalwahlen sind es nur noch wenige Wochen; in rund eineinhalb Jahren findet die nächste Unterhauswahl statt. Sunak würde den Blick der Briten lieber nach vorne lenken. Doch Details der zwei Jahre alten Textnachrichten betreffen auch seine Regierungsmannschaft.

          Das gilt vor allem für den obersten Beamten des Vereinigten Königreiches, den Leiter des „Cabinet Office“, der Regierungszentrale. Simon Case war Mitglied in den Whatsapp-Gruppen, in denen Details aktueller Covid-Maßnahmen erörtert wurden, und kommunizierte auch gelegentlich in jenem dort vorherrschenden flapsigen Ton. So stellte er bei einer Gelegenheit fest, der damalige Finanzminister – Cases aktueller Chef –  Rishi Sunak werde „ausflippen“, wenn es zu weiteren Beschränkungen komme, die der Wirtschaft schadeten. Bei anderer Gelegenheit charakterisierte er seinen damaligen Chef und Premierminister Boris Johnson als eine „Gestalt, der man landesweit misstraut“.

          Personalproblem für den Premier

          Daraus resultiert nun ein Personalproblem für Sunak. Es mehren sich Ratschläge, er möge Case aus dem Amt entlassen, und Spekulationen, dass der „Cabinet Secretary“ vielleicht von selbst den Entschluss fasst, zu gehen. Überdies ist der Schatten Boris Johnsons, der über Sunaks Amtsführung hängt, durch die Angelegenheit wieder dunkler geworden. In den Textnachrichten schreibt Case an Hancock, er gelte als Spaßbremse, weil er gegenüber Johnson stets die Covid-Gefahren hervorhebe. Johnson hingegen  schwärme so gern von den phantastischen wirtschaftlichen Zeiten, die dem Vereinigten Königreich nach dem vollzogenen Brexit bevorstünden.

          Sunaks phantasievoller Vorvorgänger begleitet und beschwert auch ohne die Whatsapp-Indiskretionen den aktuellen Regierungsalltag. Jüngst wurde bekannt, das Johnson in der üblichen – aber außergewöhnlich üppigen – Verteilung von Orden und Ehren anlässlich seines Rücktritts  auch seinen eigenen Vater Stanley Johnson mit einer Adelswürde bedenken möchte.  Der oberste Beamte Simon Case, durch dessen Hände die Ehrenliste geht, müsste auf Einwände verzichten, der aktuelle Premierminister sie passieren lassen. Falls sie  trotz des entgeisterten Kopfschüttelns nicht nur aufseiten der oppositionellen Labour-Partei diesem Vorschlag zustimmen, würde die Zuerkennung Lord Johnson senior ins britische Oberhaus befördern.

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