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Kommentar zu „Gelbwesten“ : Frankreich im gelben Fieber

  • -Aktualisiert am

Protestanten vor dem Triumphbogen in Paris am 1. Dezember. Bei den Demonstrationen wurde das Wahrzeichen von Paris schwer beschädigt. Bild: Reuters

Macrons Politik steht im Mittelpunkt der Ausschreitungen. Doch die Wut gegen den Präsidenten hat eine Vorgeschichte – denn die Mehrheit der Franzosen steht Europa schon lange ablehnend gegenüber.

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          Nach Großbritannien ist nun Frankreich dabei, sich als verlässlicher europäischer Partner Deutschlands zu verabschieden – und das in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Denn man machte es sich zu einfach, sähe man in den Protesten der „Gelbwesten“ nur ein innenpolitisches Problem für einen jungen, ungeschickt agierenden Präsidenten. Das Rückzugsmanöver, das die Regierung am Dienstag eingeleitet hat, wird wie ein Menetekel auf allen weiteren Reforminitiativen Emmanuel Macrons lasten.

          Es braucht jetzt einen Überschuss an Optimismus, in dieser Entwicklung nicht den Anfang vom Ende des europäischen Hoffnungsträgers zu sehen. Eine beherzte Sanierung der Staatsfinanzen, die aus europäischer Perspektive bitter nötig wäre, wird Macron unter diesen Umständen nicht in Angriff nehmen. Schon hat die Debatte darüber begonnen, ob Frankreich nicht von neuem mit der Drei-Prozent-Defizitregel brechen sollte, um soziale Ausgaben für die Mittelschicht zu finanzieren.

          Auch die Pläne, das unübersichtliche System konkurrierender Rentenversicherungen zu vereinheitlichen und damit Kosten zu sparen, dürften angesichts der sozialen Unrast einer Revision unterzogen werden. Macron wird nicht länger durchregieren können. Selbst in der braven Regierungsfraktion in der Nationalversammlung rumort es.

          Frankreich in Europa-Fragen gespalten

          Die Wut, die mit voller Wucht über den Präsidenten hereingebrochen ist, hat eine lange Vorgeschichte. 2005 bildete sich zum ersten Mal ein heterogenes Bündnis aus Nein-Sagern, um den europäischen Verfassungsvertrag zu Fall zu bringen. Schon damals war die Versuchung groß, das Scheitern des Vertrages vor allem den Fehlern des damaligen Präsidenten Jacques Chirac zuzuschreiben. In der Rückschau aber drängt sich der Eindruck auf, dass das Referendumsergebnis die Bruchlinien aufdeckte, die heute die französische Gesellschaft zu zerreißen drohen.

          Auf der einen Seite sammelten sich die, die meinten, dass sie die europäischen Herausforderungen annehmen sollten. Die leistungsbereiten, gut ausgebildeten Franzosen stimmten einmütig mit Ja, sahen sie doch in einer offenen Marktwirtschaft, die im internationalen Wettbewerb steht, viele Aufstiegs- und Erfolgschancen. Doch auf der anderen Seite kamen diejenigen zusammen, die Europa und die damit verbundene Globalisierung als Zumutung und Angriff auf ihr Lebensmodell empfinden. Sie lehnten es ab, schutzlos der Konkurrenz ausgesetzt zu sein, und trotzten der Vorstellung, dass es ihnen in der offenen, bunten und grünen Welt der Europabefürworter besser gehen würde. Sie wollten sich ihre „Normalität“ bewahren.

          An dieser Konstellation hat sich nichts geändert. Zu dieser „Normalität“ zählt, die Strecke zwischen Wohnung und Arbeitsplatz mit dem Auto zurücklegen zu wollen, ohne die Hauptlast der in der EU beschlossenen Klimapolitik tragen zu müssen. Den meisten Bürgern fehlt schlicht eine Alternative zum Auto. Deshalb entzündete sich ihr Unmut an der jetzt suspendierten Ökosteuer auf Benzin und Diesel. Die Franzosen, die Europa aus den unterschiedlichsten Gründen ablehnen, bilden seit 2005 eine Mehrheit.

          Deshalb grenzte es an ein kleines Wunder, als im Mai 2017 66 Prozent der Wähler entschieden, der EU eine letzte Chance zu geben. Macron verkörperte die Hoffnung, dass es vielleicht doch gelingen könnte, die Modernisierung Frankreichs und die europäische Erneuerung gemeinsam zu bewältigen. Gern wird jetzt behauptet, Macrons Legitimität sei von Anfang an schwach gewesen. Als Argument wird sein Ergebnis im ersten Wahlgang – knapp 24 Prozent der Stimmen – angeführt. Diese Betrachtung greift entschieden zu kurz. Jacques Chirac kam 2002 mit einem Ergebnis von weniger als 20 Prozent in die Stichwahl, ohne dass seine Legitimität angezweifelt worden wäre. Hätten die Franzosen nur aus Angst vor Marine Le Pen für Macron gestimmt, warum verhalfen sie dann seiner Bewegung En marche bei der einen Monat später folgenden Parlamentswahl zu einer satten Regierungsmehrheit? Warum stärkten sie nicht die verbliebenen Altparteien?

          Unbestritten aber ist, dass schon leichte Stimmenverschiebungen unter den ersten vier Präsidentenanwärtern ein ganz anderes Ergebnis hätten bringen können. Für den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ist das knappe Scheitern im ersten Wahlgang ein traumatisches Erlebnis. Seither sinnt er auf eine Revanche an Macron, den er als Usurpator darstellt. Das erklärt, warum Mélenchon die Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut eines Teils der „Gelbwesten“ weiter anfacht. Ein Mitstreiter Mélenchons, der Abgeordnete François Ruffin, durfte gar in einer Inszenierung am Elysée-Palast damit drohen, Macron werde wie John F. Kennedy enden.

          Aktionen wie diese dürfen nicht von den Fehlern Macrons ablenken. In einem autobiographischen Buch hatte er seinen Landsleuten während des Wahlkampfs eine friedliche „Revolution“ von unten versprochen. Einmal im Elysée-Palast, führt er sich auf wie ein Monarch. Macron hat viel Vertrauen verspielt. Frankreich stemmte sich vor eineinhalb Jahren gegen den europäischen Trend. Doch jetzt ist das Land einem „gelben Fieber“ verfallen – ohne Aussicht auf schnelle Besserung.

          Michaela Wiegel
          Politische Korrespondentin mit Sitz in Paris.

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