Lage der Flüchtlinge : Winter vor Lesbos
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Im Flüchtlingslager Moria stehen die Zelte dicht an dicht. Für den Winter sie kaum geeignet. Bild: AP
Eigentlich sollten die Flüchtlinge auf Lesbos die Insel schnell wieder verlassen können. Doch das ist nur Theorie. Kurz vor dem Wintereinbruch werden sie immer verzweifelter.
Es ist Samstagabend. Vier Mädchen in Cocktailkleidern stolpern aus der angesagten Monkey Bar von Mytilini, Hauptstadt der ägäischen Insel Lesbos. An eine Hauswand gelehnt ziehen sie die Strumpfhosen hoch und den Lippenstift nach. Auf dem Hafenplatz vor ihnen reihen sich ein Dutzend Schlafsäcke aneinander. Eine Frau erhebt sich und schüttelt eine Decke aus. Neben ihr flattert ein Leintuch im Wind. „Open the Island“ steht darauf. Eines der Mädchen vor der Bar zündet die Kerzen einer Geburtstagstorte an. Nach kurzer Zeit steht der Kuchen in Flammen und die Gruppe läuft kreischend zurück auf die Tanzfläche. Die Frau auf dem Hafenplatz sinkt langsam zurück in den Schlafsackhaufen.
Seit achtzehn Tagen sitzt die Afghanin Adele Tajik auf einer pinken Isomatte mitten auf dem Hafenplatz von Mytilini. Dreißig weitere Flüchtlinge, darunter Familien und Kinder, protestieren mit ihr. Gegen die europäische Flüchtlingspolitik, die sie und 15.000 andere Flüchtlinge auf den ägäischen Inseln festhält. Einige haben sich Alufolie um die Füße gewickelt, andere ihren Kopf so tief in den Schlafsack gegraben, als ob sie darin eine andere Welt finden möchten. Adele Tajik streckt die Beine aus, sie gähnt, ihr Oberkörper erzittert. Sie streut ein paar Erdnüsse in ihre Hand. Es sollen die letzten für eine Weile sein. Morgen fängt der erste Tag ihres Hungerstreiks an.
Seit das Rücknahme-Abkommen zwischen der EU und der Türkei im März 2016 in Kraft getreten ist, sind die ägäischen Inseln zu überfüllten Freiluftgefängnissen geworden. Allein 6000 Menschen leben unter prekären Verhältnissen im Durchgangslager Moria, das gleichzeitig auch als Abschiebegefängnis dient. Vor dem Abkommen noch als Registrierungslager für 2300 Menschen geplant, wurden die Ankommenden hier nur registriert und weitergeschickt. Wartezeit: höchstens 30 Tage.
Lebensgefährliches Warten – ohne Ziel
Doch seit März 2016 stecken manche schon seit 19 Monaten auf der Insel fest. Denn so lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, kann niemand auf das griechische Festland weiterreisen. Diejenigen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, werden von Lesbos aus zurück in die Türkei gebracht. Doch die Verfahren gehen nur schleppend voran. Für viele Menschen ein Warten ohne Ziel. Und lebensgefährlich, denn die Temperaturen erreichen schon jetzt in der Nacht um die vier Grad.
Auf dem Weg in das Bergdorf Moria, zehn Kilometer von der Hauptstadt Mytilini entfernt, stemmt sich ein Junge gegen den Lenker seines Fahrrads. Auf dem Gepäckträger balanciert er zwei dicke Holzbalken. Sie sind so lang wie eine Hausfassade. Seine Fersen rutschen mit jedem Schritt aus den Plastiksandalen. Kurz vor dem Eingang des Lagers bricht einer der Balken hinunter. Er schiebt seine dünne Nylonmütze über den Haarschopf und wuchtet das Holz zurück auf den Gepäckträger.
Unbeheizte Unterkünfte und eiskaltes Wasser
Er muss sich beeilen – in einer Stunde geht die Sonne unter, dann rollt der Wind über die Küste und bringt die Kälte mit sich. Ab fünf Uhr nachmittags treiben in Moria kleine Feuerfunken in die Höhe. Wie Schattenfiguren umkreisen die Menschen die unbeleuchteten Feuerstellen vor ihren Zelten. Sie sind die wichtigste Wärmequelle für die Menschen im Lager, denn auch jetzt, kurz vor dem Winter sind 3.000 Unterkünfte noch immer nicht beheizt. In den überlasteten Sanitäranlagen tröpfelt das Wasser eiskalt aus den Leitungen.
Moria ist seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals ein sogenannter Hotspot, ein Testgelände, auf dem die Europäische Union demonstrieren will, dass sich Migrationsrouten regulieren lassen. Doch bis jetzt kommen die griechischen Behörden mit den Anträgen nicht hinterher – und mit jedem ankommenden Boot stehen ein paar Anträge mehr auf der Warteliste.
Allein im September kamen laut der Kinderrechtsorganisation Safe the Children 2370 Menschen auf Lesbos an, 31 wurden zurück in die Türkei gebracht. Für die Türkei ist es physisch nicht möglich, den ganzen Grenzstreifen zu kontrollieren. Doch viele Neuankömmlinge erzählen auch von der leichten Bestechlichkeit der Grenzbeamten.